Stasi-Mann vor Gericht: Mord am Tränenpalast

Erstmals steht wieder ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter vor Gericht. Ihm wird heimtückischer Mord an einem Polen im Jahr 1974 vorgeworfen.

Eine Person verdeckt sein Gesicht.

Der Angeklagte Kriminalgericht Moabit in Berlin am 14. März Foto: Sebastian Gollnow/dpa

BERLIN taz | Der Andrang ist groß, der Saal im Kriminalgericht Moabit voll: Hier wird seit langem wieder ein Stück deutsch-deutsche Geschichte verhandelt, nachdem vor knapp zwanzig Jahren die letzten Mauerschützenprozesse zu Ende gegangen waren. Ein 80-jähriger ehemaliger Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit muss sich wegen heimtückischen Mordes verantworten.

Die Staatsanwaltschaft beschuldigt den inzwischen 80-jährigen Angeklagten aus Leipzig, vor fast genau 50 Jahren, genauer: am 29. März 1974, einen polnischen Staatsbürger „aus einem Versteck heraus“ tödlich in den Rücken geschossen zu haben, als dieser am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße in den Westen ausreisen wollte.

Der 38-jährige Czesław Kukuczka war demnach zuvor mit einer Bombenattrappe in der polnischen Botschaft in Ost-Berlin erschienen und hatte mit einem Anschlag gedroht, sollte er keine Ausreisegenehmigung in den Westen erhalten. Daraufhin soll die Stasi entschieden haben, dem Polen die Ausreise zu genehmigen, so die Staatsanwaltschaft. Einsatzkräfte der Stasi sollen dem Ausreisewilligen die nötigen Papiere ausgestellt und ihn zum Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße begleitet haben.

Gleichzeitig soll die Stasi den Angeklagten, der einer sogenannten „Operativgruppe“ angehörte, aber mit der „Unschädlichmachung“ von Kukuczka beauftragt haben. Als dieser am Sektorenübergang ankam, ließen ihn die DDR-Grenzbeamten auch passieren, laut Anklageschrift „unter Vorspiegelung, dass ihm die Ausreise gestattet wurde“. Als er sich schon hinter dem letzten Kontrollpunkt befand, erschoss der Angeklagte Kukuczka von hinten, so die Anklage. Der Pole wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo er kurz darauf seinen Schussverletzungen erlag.

Landen bald noch mehr Fälle vor Gericht?

Der Angeklagte schweigt, seine Verteidigerin erklärte, ihr Mandant bestreite den Tatvorwurf. Ein Sohn des getöteten Czesław Kukuczka sowie dessen Schwester treten im Prozess als Nebenkläger auf. Zum Prozessauftakt am Donnerstag wurden zunächst zwei Zeugen gehört: Ein Kriminalbeamter, der den Fall zuletzt zur Anzeige brachte, sowie eine ehemalige Schülerin, die sich zum Tatzeitpunkt auf Klassenfahrt und somit am Tatort, dem Tränenpalast an der Friedrichstraße befand.

Auch 50 Jahre nach dem für sie traumatisierenden Geschehen sehe sie den Vorfall noch bildlich vor sich, erklärt die Zeugin den drei Richtern und zwei Schöffen, die über den Fall urteilen. Gefragt, ob sie außer einigen Klassenkameraden und ihren Eltern noch weiteren Personen von dem Erlebten an der Berliner Grenze erzählt habe, antwortet die inzwischen über 60-Jährige: „Mit so einer Geschichte geht man nicht hausieren.“

In dem Fall wurde zwar schon mehrmals ermittelt, doch erst 2016 brachten neue Erkenntnisse aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv den Stein wieder ins Rollen, und die Staatsanwaltschaft nahm ihre Ermittlungen wieder auf. Zuerst war sie nur von einem Totschlag ausgegangen, der allerdings nach spätestens 30 Jahren verjährt. Mord dagegen verjährt nicht, und so konnten die Staatsanwälte den mutmaßlichen Stasi-Schützen nun knapp 50 Jahre nach der Tat mit einem Mord-Vorwurf anklagen.

Der Prozess holt damit nicht nur allgemein die systematischen Verbrechen des DDR-Regimes wieder ans Licht und an die breite Öffentlichkeit, sondern könnte auch über die zahlreichen, vor 20 Jahren zu Ende gegangenen Mauerschützenprozesse hinaus zu weiteren Ermittlungen und neu aufgerollten Fällen führen. Das hofft jedenfalls Martin Heger, Professor für Straf- und Strafprozessrecht an der Humboldt Universität Berlin. Er setzt dabei auch auf die Forschung, die über 30 Jahre nach dem Mauerfall immer weitere Dokumente zugänglich macht.

Klarer Mord?

Der Fall sei aber gänzlich anders gelagert als die in den 1990er und 2000er Jahren viel beachteten und diskutierten Mauerschützenprozesse, in denen zumindest noch mit einem Narrativ von Grenzschutz seitens der DDR argumentiert worden und den Flüchtenden ihre Gefahr durchaus bewusst gewesen sei. „Im aktuellen Fall wollte man aber einen Menschen schlicht ermorden, weil er das Land verlassen wollte“, so der Berliner Jurist.

Anders als in den Mauerschützen-Fällen, die der BGH größtenteils als Totschlag einstufte, handele es sich hier um einen Paradefall des Heimtücke-Mordes. „Heimtückischer geht es nicht“, erklärt Heger mit Hinblick auf die Arg- und Wehrlosigkeit, in der sich Czesław Kukuczka befand, als der Angeklagte ihn ohne Vorwarnung von hinten erschoss.

Die Berliner Staatsanwaltschaft beruft sich in ihrer Anklage zunächst auf den Mord-Paragraphen aus dem DDR-Strafgesetzbuch, der für einen Heimtücke-Mord sogar die Todesstrafe vorsah. Mit der Wiedervereinigung wurde allerdings geregelt, dass das bundesdeutsche Strafgesetzbuch mitsamt seinen Rechtsfolgen auch auf Straftaten aus DDR-Zeiten Anwendung findet. Und qua Grundgesetz ist die Todesstrafe in der BRD verboten, der Angeklagte muss also im Falle einer Verurteilung maximal mit einer lebenslänglichen Haftstrafe rechnen.

Wegen seiner großen zeitgeschichtlichen Bedeutung wird der Prozess aufgezeichnet. Aufgrund dieses besonderen Umstands musste der Prozess extra in einen besonders großen Saal im Keller des Gerichts an der Turmstraße verlegt werden. Für den Prozess sind nun erst einmal noch sechs weitere Verhandlungstage angesetzt, in denen unter anderem noch ein Experte aus dem Bundesarchiv für Stasi-Unterlagen sowie ein Gerichtsmediziner als Zeugen gehört werden sollen. Ein Urteil könnte dann am 23. Mai gesprochen werden.

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