Betroffener über Kinderkur: „Schweigen statt Antworten“

Engelbert Tacke war sieben Jahre alt, als er zur Kinderkur geschickt wurde. Vor zwei Jahren stieß er auf die dunkle Vorgeschichte des Verschickungsheims.

Eine alte Postkarte zeigt ein Gebäudekomplex in einer hügeligen Wald- und Wiesenlandschaft

Das Vertragsheim in Brilon auf einer alten Postkarte Foto: privat

taz: Herr Tacke, Sie sind 1965 zu einer Kinderkur nach Brilon im Sauerland verschickt worden, wie Millionen andere Kinder in der Nachkriegszeit, die leidvolle Erfahrungen machen mussten. Welche Erinnerungen haben Sie an den Kuraufenthalt?

Engelbert Tacke: Nicht viele, aber keine guten. Für die sechs Wochen der Kinderkur beschränken sich meine Erinnerungen auf wenige Minuten, für die ich ein klares Bild vor Augen habe. An die Leiterin habe ich eine präzise Erinnerung, weil sie mich verhauen hat. Als mich das Thema vor zweieinhalb Jahren einholte, fiel mir auf, dass ich das Gefühl hatte, sechs Wochen mit niemandem gesprochen zu haben. Dieses Gefühl war gruselig, deshalb habe ich mich dann intensiver damit beschäftigt.

Aus der Spurensuche ist eine umfangreiche Recherche geworden, die auf der Webseite der Initiative der Ver­schickungskinder veröffentlicht worden ist. Wie kam es dazu?

Im Jahr 2021 bin ich in ein Forum von ehemaligen Verschickungskindern geraten, in dem sich ein Dutzend Leute über Brilon austauschten. Es gab Mutmaßungen über das Heim, und da habe ich angeknüpft. Übrigens nicht ich allein, die Recherche habe ich mit einer anderen Betroffenen, die anonym bleiben will, zusammen gemacht.

Welche Mutmaßungen gab es zu Brilon?

Wir hatten Erzählungen von Betroffenen in diversen Foren ausgewertet. Es gab zwar eine Menge übler Erfahrungen, aber viel mehr war nicht rauszukriegen. Uns hat dann interessiert, wer das Heim betrieben hat, was die Verantwortlichen vorher gemacht haben und wie die da hingekommen sind. Das Gründerpärchen waren Nazis, beide NSDAP-Mitglieder. Der Namensgeber, Dr. Paul Selter, war eine obskure Figur, der in seiner Biografie bei drei Universitäten drei verschiedene Schullaufbahnen angegeben hatte, im Entnazifizierungsverfahren nachweislich gelogen hat und dann über viele Merkwürdigkeiten mit seiner Frau in Brilon landete. Dass er seinen Doktortitel zu Recht führte, müssen wir bezweifeln. Betrieben hat das Heim die Barmer Ersatzkasse.

Jahrgang 1958, studierte Soziologie, arbeitete als Fernsehjournalist und ist heute in Rente.

Hat sie sich nicht an der Nazivergangenheit des Betreiberpaares gestört?

Einen konkreten Nachweis, wie diese Verbindung zustande gekommen ist, gibt es nicht. Aus heutiger Perspektive würde ich sagen, die Barmer hätte nie einen Vertrag mit diesem Heim abschließen dürfen.

Wie sehr war die Barmer in das Business der Kinderverschickung involviert?

Sie hatte 3 eigene und mindestens 15 Vertragsheime, nur für Kinderkuren. Brilon war ein Vertragsheim, privat geführt. Die Kinderkuren galten als Errungenschaft, und die Barmer war stolz auf ihre drei eigenen Heime. In Mitgliederheften wurden sie mit Fotos beworben.

Die Barmer hat 2021 eine Untersuchung zur Geschichte ihrer Verschickungsheime in Auftrag gegeben. Was kam dabei heraus?

Es gibt den Bericht, aber sie hat sich nie öffentlich dazu geäußert. Mir persönlich hat man im Zuge meiner Recherche mitgeteilt, dass die Barmer die Kinderverschickung bedaure und im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu mehr Transparenz beitragen wolle. „Im Rahmen ihrer Möglichkeiten“ interpretiere ich so, dass es auf die politische Ebene abgeschoben wird und dass man die eigene Unternehmensgeschichte raushält.

Wer hat die Untersuchung durchgeführt?

Die Historikerin Susanne Herold. Eine Auswertung von Quellen, die die Barmer zur Verfügung gestellt hat. Es ist genau benannt, auf welche Quellen man sich geeinigt hat. Es war also keine unabhängige Untersuchung. Wir haben in Gesprächen vergeblich versucht zu erreichen, dass weitere Quellen offengelegt werden.

Wie ist die Aktenlage zu Brilon und anderen Verschickungsheimen?

Ich nehme an, dass das, was ausgewertet worden ist, gut ausgewertet wurde. Die Untersuchung geht jedoch kaum auf die inneren Strukturen ein, wie die Heime geführt und ob sie überprüft wurden. Ich halte den Bericht nicht für sehr zielführend.

Wo sollte man ansetzen?

Ich habe insistiert, dass auch die Protokollakten der operativen Geschäftsführung der Barmer von vor 1990 offengelegt werden. Das ist nicht passiert. Ich halte es nicht für glaubwürdig, dass eine große Organisation Dokumente dieser Qualität vernichtet.

Haben Sie Akten zu Ihrem Aufenthalt in Brilon gefunden?

Ich gehe davon aus, dass keine Akten mehr zu meiner Verschickung in einem Archiv lagern. Krankenakten werden normalerweise nach zehn Jahren vernichtet. Mir ging es nicht um meine individuelle Geschichte. Ich wollte wissen, in welchem Kontext dieses Heim in Verbindung mit der Barmer stand und wie die damals aufgestellt war.

Was fanden Sie heraus?

In der Studie der Barmer wurden Beiträge aus den Mitgliederzeitschriften der 50er Jahre ausgewertet. Zitiert wurde unter anderem ein Dr. Ernst Wentzler, von dem bekannt ist, dass er als Euthanasie-Gutachter Kinder vom Schreibtisch aus in den Tod geschickt hat. Von ihm stammten mehrere Aufsätze, unter anderem zur „seelischen Abhärtung im Kleinkindalter“! Dieser Mann wurde einfach so zitiert, ohne zur Kenntnis zu nehmen, dass er ein übler Kinderarzt und Nazi war. Das hat mich erst darauf gebracht, tiefer in die Geschichte der Barmer zu gucken.

Die Beiträge fanden sich in den Akten, die die Barmer zur Verfügung gestellt hat?

Nein, die Mitgliederhefte sind in Bibliotheken öffentlich zugänglich. Akten über die Zeit vor 1945 lagen bei der Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger. Ich habe vor allem die Mitgliederzeitungen und Zeitschriften für die Verwaltungsstellen in den Städten genauer analysiert. Viel deutet darauf hin, dass die Barmer den Nazis geradezu in den Schoß gefallen ist. Bereits 1933 war man stolz darauf, dass alle Verwaltungsratsmitglieder der NSDAP angehörten. Und entsprechend groß ist in den frühen 30er Jahren die propagandistische Unterstützung für das Sterilisationsgesetz gewesen, also das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, wie es offiziell hieß.

War die Barmer mit dem NS-Regime enger verbandelt als andere Krankenkassen?

Es gibt starke Indizien dafür. Die Verbindung zur NSDAP und zum rassenpolitischen Amt der NSDAP ist deutlich erkennbar.

Hat die Barmer ihre Vergangenheit im Nationalsozialismus je untersuchen lassen?

Nein. Die letzte umfassende Äußerung zur eigenen Geschichte stammt von 1984 zum hundertjährigen Jubiläum. Da geht die Umdeutung der Geschichte weiter, wie sie in den 50er Jahren begonnen wurde. Die Barmer wird dargestellt als Opfer von Anfeindungen, die darauf zielen, die Ersatzkassen abzuschaffen. Und in dem Kontext wird die eigene Geschichte in der NS-Zeit eher in eine Widerstandsgeschichte umgeschrieben.

Sie haben privat recherchiert. Die Barmer Ersatzkasse hat den Faden bisher nicht aufgenommen. Wie geht es weiter?

Es gibt Wissenschaftler, die sich mit diesem Themenkomplex weit besser auskennen als ich. Ich persönlich sehe im Moment nicht viele Möglichkeiten weiterzumachen. Die Aktenlage ist begrenzt, und es bedarf eines politischen Paradigmenwechsels bei der Barmer und mehr öffentlichen Interesses.

Die DAK, die Deutsche Angestelltenkasse, hat zur Kinderverschickung ebenfalls eine Studie machen lassen.

Diese Studie geht deutlich weiter, bezieht auch die NS-Zeit mit ein. Der Vorstandsvorsitzende hat sich öffentlich für das Verhalten der DAK bei den ehemaligen Verschickungskindern entschuldigt. Bei der Barmer sind wir explizit angeschwiegen worden. Schweigen statt Antworten, das empört mich bis heute.

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