Romane über die eigenen Eltern: Der Mutter eine Stimme geben

Romane über die eigene Mutter boomen derzeit. Doch was gibt man von ihr preis, und wie schützt man sie? Diese Fragen treiben viele Autoren um.

Eine junge und eine ältere Frau halten ihrer Gesichter ganz nah aneinander.

Tochter und Mutter ganz innig (Symbolfoto) Foto: Westend6/imago

Bevor ihre Mutter im Krankenhaus stirbt, flüstert sie der Tochter noch leise ins Ohr, sie dürfe alles aufschreiben – diese Szene hält die Schriftstellerin Sylvie Schenk in ihrem wunderbaren, kürzlich erschienenen Porträt „Maman“ fest.

Ein untypischer Satz für die verschlossene Mutter, womöglich trügt Schenks Erinnerung hier, womöglich hat sie die Szene dazugedichtet, in jedem Fall scheint die Autorin sie sich gewünscht zu haben: eine Erlaubnis, über das Leben der Mutter zu schreiben.

Kaum ein Thema drängt so viele Schriftstellerinnen zum Schreiben wie die eigenen Eltern, die eigene Herkunft. Obwohl es heißt, Kunst dürfe alles – auch kompromisslos sein –, bemühen sich viele Autoren, diejenigen zu schützen, die in ihren Texten vorkommen. Doch wie schützt man sie? Holt man ihre Erlaubnis ein? Handelt man Realität und Fiktion mit ihnen aus? Und was soll die Welt über sie zu wissen meinen?

Ob es wirklich einen Trend zur Autofiktion gibt, wie er der zeitgenössischen Literatur gerne diagnostiziert wird („Ich, ich, ich – alle schreiben über sich“, hieß es im Tagesspiegel über die vergangene Frankfurter Buchmesse) darüber wird gestritten: Die einen sagen, das Genre sei heute durch Identitätspolitik en vogue, die anderen, schon Goethe und Thomas Mann hätten so geschrieben.

Fest steht, dass Nominierungen für Literaturpreise kaum noch ohne Autofiktion auskommen. Besonders beliebt ist es, sich der eigenen Mutter zu nähern, wie es die französischen Glanzfiguren des Genres alle irgendwann tun: ob Annie Ernaux („Eine Frau“), Edouard Louis („Die Freiheit einer Frau“) oder Didier Eribon mit seinem jetzt im Frühjahr erscheinenden Buch „Eine Arbeiterin“.

Seitensprünge und Ohrfeigen

Hierzulande stand „Maman“ von Sylvie Schenk im vergangenen Jahr auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Auch Kim de l’Horizons „Blutbuch“, das den Preis im Jahr zuvor gewann, bewegt sich auf den Spuren der Frauen in de l’Horizons Familie. Nominiert war neben „Blutbuch“ der autofiktionale Roman „Lügen über meine Mutter“ von Daniela Dröscher. Und die Leipziger Buchmesse 2023 verlieh ihren Preis für Belle­tristik an das Mutterporträt „Unser Deutschlandmärchen“ von Dinçer Güçyeter.

Oft sind die Eltern bereits verstorben, wenn Texte über sie erscheinen, wie bei Annie Er­naux oder Sylvie Schenk. Doch einige schreiben über Mütter, die noch leben, erzählen von deren Schwangerschaftsabbrüchen und Diäten, von Fremdgehen oder einer Ohrfeige.

Was genau an ihren Texten real ist und was fiktiv, will natürlich keine Schriftstellerin einer Journalistin gegenüber einräumen. Wie sie diese Realität mit den Beschriebenen aushandeln, davon erzählen manche aber schon.

Die Autorin Daniela Drö­scher hat ihre Mutter um Erlaubnis gefragt, über ihr Familiendrama zu schreiben. „Mach damit, was du willst. Es ist deine Geschichte“, habe diese gesagt. Dröscher nutzt den Romanplot, vom Tonfall mehr Story als Dokumentation, als Schutzschild der Mutter. Die wisse genau: Sie sei nicht die Figur im Buch, nur „ihre Doppelgängerin im echten Leben“. „Vielleicht fifty-fifty“, sagt Daniela Dröscher auf die Frage, wie viel an diesem Roman erfunden sei. Auch ihr Vater kommt darin vor. Er habe ihr verbieten wollen, über ihn zu schreiben, sie schrieb trotzdem. Kontakt haben sie keinen mehr.

Die Seele und Familie verkaufen

Die Literaturgeschichte ist voll von Figuren, deren menschliche Vorlagen sich nicht in Büchern verewigt sehen wollten – und über deren Willen hinweggegangen wurde. Marianne Frisch, deren Mann der Schriftsteller Max Frisch war, ließ ihn wissen: „Ich habe nicht mit dir gelebt als literarisches Material. Ich verbiete es, dass du über mich schreibst.“

Auch Ingeborg Bachmann bat Max Frisch, ihre Briefe an ihn zu vernichten. Doch er verwahrte sie, der Briefwechsel wurde 2023 veröffentlicht. Und die Exfreundin des Autors Maxim Biller klagte erfolgreich vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Roman „Esra“, der sie deutlich und gegen ihren Willen erkennen ließ.

Womöglich sind Schriftstellerinnen aber mehr um den Schutz ihrer Figurenvorlagen bemüht, wenn es nicht um Ex-Partnerinnen geht, sondern um Eltern. Der norwegische Autor Karl Ove Knausgård schrieb noch: „Ich habe meine Seele und meine Familie verkauft.“ Und: „Will man in die Wirklichkeit eindringen, dann kann man keine Rücksicht nehmen.“

Doch selbst er räumte später in einem Interview ein, er habe gemerkt, „dass es geradezu unmenschlich ist, alles ungeschminkt zu erzählen“. Für Daniela Dröscher ist die Fiktionalität eine Form von Schminke, sowohl für die Mutter als auch für den Vater.

Der Mutter eine Stimme geben

Oft erzählt Autofiktion jedoch viel dokumentarischer, viel realistischer. Dinçer Güçyeter druckte sogar eigene Familienfotos zwischen den Kapiteln seines Romans „Unser Deutschlandmärchen“ ab. In poetischer Form erzählt der Autor von seiner Mutter Fatma, die als türkische Gastarbeiterin nach Deutschland kam – das Buch war so erfolgreich, dass sie in ihrem Heimatort inzwischen nach gemeinsamen Selfies gefragt wird.

Güçyeter geht noch weiter als klassische Autofiktion, noch näher dran: Er schreibt auch mit der Stimme seiner Mutter, in Ich-Form. Ob das nicht anmaßend sei? Das habe er auch befürchtet, sagt Güçyeter. Aber er habe die ersten Seiten auf Türkisch geschrieben, um den muttersprachlichen Rhythmus Fatmas zu finden, und ihr vorgelesen. Seine Mutter habe ihm gesagt: „So war es. Mach damit, was du willst.“

Bei einigen Stellen hieß es dann aber doch: „Vergiss es!“ Szenen, die zwischen ihr und dem Vater bleiben sollten, strich der Sohn, auch wenn sie die Dramaturgie des Romans verbessert hätten. Ist es eine künstlerische Bankrotterklärung, aus Rücksicht Szenen zu streichen? Vielleicht auch bloß ein Verständnis von Literatur, das nicht ästhetisiert, über Grenzen zu gehen.

Es geht eine gewisse Faszination von Autofiktion aus: Wie gerne blättert die Leserin dieser Bücher schon mal vor, um auf dem Buchumschlag das Foto des Autors zu sehen und ein Gesicht zur Figur zu haben. Oder will nur kurz nachlesen, ob die Familie der Autorin wirklich aus diesem oder jenem Dorf kommt. Man ist ergriffen angesichts all dieser vermeintlichen Realität, aber in die Neugier mischt sich auch ein leises Unbehagen. Als würde man bei einer fremden Familie durchs hell erleuchtete Fenster schauen und dann zu wissen meinen, worüber sie streitet oder wer wen betrogen hat.

Aus der Not heraus geschrieben

Güçyeter konnte seine Mutter fragen, was durch das Fenster nicht sichtbar sein soll, was es bedeutet, sie zu schützen. Nicht alle haben die Möglichkeit dazu, selbst wenn die Eltern noch leben. Die Mutter der Autorin Maren Wurster ist schwer dement, sie versteht nicht mehr, worum es in dem Buch ihrer Tochter geht.

„Papa stirbt, Mama auch“ heißt es, ein Porträt der erkrankten Eltern, das die Sorgearbeit in den letzten Wochen und Jahren eines Menschenlebens sichtbar macht – explizit, aber würdevoll, eine Gratwanderung. Die Schriftstellerin lässt bis heute die Frage nicht los, ob sie das alles aufschreiben durfte: die alternden Körper, die verwahrloste Wohnung, das Einnässen, die Aggression. „Ich bin mir bewusst, dass ich etwas Brutales tue“, sagt sie. Aushandeln, was sie öffentlich macht, kann sie nur noch mit sich selbst – es gab Textstellen, die sie wieder rausgenommen hat, weil sie „zu hart, zu krass“ waren.

Autofiktion werde aus einer Not heraus geschrieben, sagt Daniela Dröscher. Es ist oft Literatur, die meint, etwas erzählen zu müssen, das über einen selbst hinausgeht, etwas wie Klasse, Frausein, Migration oder Sterben. Wann es Schonungslosigkeit braucht, um dieser Dringlichkeit gerecht zu werden, welches Detail ein notwendiges Bekenntnis ist und welches vor dem öffentlichen Blick verborgen bleiben soll, damit hadern auch Schriftsteller.

Also dichten einige etwas hinzu oder lassen etwas weg, um rücksichtsvoll zu sein, aber gleichzeitig das tun zu können, was Sylvie Schenk nennt: „Maman aus dem Nichts retten.“

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