Ein Mann mit langem schwarzem Mantel und Hut führt 5 Kinder auf einem Bürgersteig, historische Schwarz-Weiß-Aufnahme

Berlin, Scheunenviertel, Grenadierstraße im Jahre 1928 Foto: Walter Gircke/BPK

Berliner Pogrom am 5. November 1923:Das vergessene Pogrom

Vor 100 Jahren überfiel ein antisemitischer Mob plündernd die im Berliner Scheunenviertel lebenden Jüdinnen und Juden. Eine Spurensuche.

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5.11.2023, 10:08  Uhr

„Ich bin seit 35 Jahren in Deutschland und habe meine Wohnung seit 1904 in Berlin. Ich betreibe in dem Haus Grenadierstraße 14 eine Gastwirtschaft. Am Montag, dem 5. 11. 23 gegen ½ 12 Uhr vormittags kam ein Haufen Plünderer auf meine Gastwirtschaft zu, drückte mit Gewalt die Türen ein und nahm sämtliche in der Gastwirtschaft befindlichen Waren fort. Bei der Plünderung sind mir auch 2 Billionen Mark, die die Tageseinnahmen darstellten, gestohlen. Polizeibeamte waren zugegen, haben die Plünderer aber nicht verhindert.“

Protokoll des Gastwirts Chaim Kronguth

Die hier zitierten Protokolle der Pogromopfer entnahmen wir dem soeben erschienenen Buch „Pogrom im Scheunenviertel“ von Karsten Krampitz (Verbrecher Verlag, 19 Euro). Ebenfalls empfehlenswert: „Die Grenadierstraße im Berliner Scheunenviertel“ von Horst Helas (Verlag Hentrich & Hentrich, 12,90 Euro). Nur noch antiquarisch erhältlich ist das großartige Werk von Eike Geisel „Im Scheunenviertel“, erschienen 1981. (taz)

Das Haus Grenadierstraße 14 steht heute nicht mehr. Die Straße, 300 Meter lang, ist herausgeputzt mit den sanierten Fassaden der Häuser. Einige renovierte Plattenbauten aus DDR-Zeiten ergänzen den Bestand. Von der Münzstraße aus betrachtet reihen sich auf der linken Seite ein Restaurant, Schuhgeschäft, Bekleidungsladen und noch ein Restaurant aneinander. An einem warmen Herbstmittag sind die Stühle auf dem Bürgersteig der Speiselokale gut besetzt. Es gibt hier, nicht weit vom Alexanderplatz gelegen, keine besonderen Auffälligkeiten. Nur heißt die Straße schon lange nicht mehr nach den Grenadieren, sondern erinnert an den 1944 hingerichteten kommunistischen Widerstandskämpfer Bernhard Almstadt.

Vor 40 Jahren, als ich zum ersten Mail diese Straße entlanglief, sah es hier noch etwas anders aus. Frisch aus Westdeutschland nach Westberlin zugezogen, hatte ich ein Buch entdeckt, in dem von einem jüdischen Viertel die Rede war, ja, nicht nur das, in diesem Viertel, so stand da geschrieben, hätten sogenannte Ostjuden gelebt, in einer Art Armutsghetto. Ich besorgte mir ein Tagesvisum für Ostberlin. Arm ging es in der Almstadtstraße immer noch zu, mit Kohlebergen auf dem Bürgersteig, verrotteten Hinterhöfen, abgeplatzten Fassadenstücken, mutmaßlich Außenklos auf dem Treppenabsatz.

Nur Juden gab es keine mehr. Aber doch letzte Zeichen: verwaschene hebräische Buchstaben an einer Wand. Ein großer Davidstern hing an einer Brandmauer, der wohl einmal das Innere eines Bethauses geschmückt hat. Ansonsten: Verfall.

Vor exakt 100 Jahren

Die Erinnerung verläuft in Schichten. Manche sind dick und leicht zugänglich, jeder kennt sie, andere zeigen sich hauchdünn und verschüttet. Diese hier ist gründlich verschüttet.

Vor exakt 100 Jahren, am 5. November 1923, kam es in der Grenadierstraße zu einem Pogrom gegen die dort ansässigen Jüdinnen und Juden. Es war der reichsweit schlimmste Ausfall gegen Juden in der Weimarer Republik. Eine Menschenmenge strömte vom Arbeitsamt an der Alexanderstraße, die damals noch bis zur Münzstraße reichte, in das Scheunenviertel, wie die Gegend genannt wurde. Sie brachen in die Geschäfte ein und plünderten Wohnungen aus.

Anlässlich der hundertjährigen Wiederkehr des Pogroms vom 5. November 1923 veranstaltet die Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum an diesem Sonntag einen Gedenktag. Dazu gehören Stadtspaziergänge durch das Scheunenviertel und die Spandauer Vorstadt sowie eine Filmvorführung mit Podiumsdiskussion. Weitere Informationen unter centrumjudaicum.de. (taz)

Rufe wie „Schlagt die Juden tot!“ und „Zieht die Juden aus!“ ertönten. Juden wurden gejagt, verprügelt und verletzt. Die Polizei erschien mit reichlicher Verspätung. Sie nahm eine große Zahl der verfolgten Juden fest, die die Beamten selbstverständlich für die Schuldigen hielten.

„Ich bin österreichischer Staatsbürger und seit etwa 5 Jahren in Berlin. Ich betreibe in der Mulackstraße 4 einen Lumpen- und Zigarettenhandel. Am Montag, dem 5. 11. 23, kam ein großer Haufen Menschen die Mulackstraße herunter. Ich verrammelte meine Wohnung. Die Plünderer drangen aber doch gewaltsam in meine Wohnung ein, indem sie die Tür erbrachen und an der Fassade hochkletterten, die Fenster einschlugen und in meine Wohnung stiegen. Die Plünderer raubten und zerstörten alles, was sich in meiner Wohnung befand. Als ich aus dem Fenster nach der Polizei rief, haben die Leute mir immer entgegen geschrien: Wir sind bezahlte Leute, uns tut keiner etwas.“

Protokoll des Händlers Chaim Federbusch

Aber warum lebten überhaupt aus Osteuropa stammende Juden in der Grenadierstraße? Freiwillig taten sie es gewiss nicht, denn die Häuser des Scheunenviertels galten als völlig überbelegt, die sanitären Verhältnisse als untragbar, die Wohnungen als viel zu klein für die kinderreichen Familien. Ein Sanierungsgebiet also, eines mit vergleichbar günstigen Mieten.

Nicht alle kamen in Amerika an

Hunderttausende Jüdinnen und Juden machten sich seit Ende des 19. Jahrhunderts auf den Weg nach Westen, auf der Flucht vor Armut und Pogromen in Russland, unterwegs in die neue Welt jenseits des Atlantiks. Aber nicht alle kamen in Amerika an. Ein paar wenige blieben unterwegs hängen, hier in Berlin. Es waren die Ersten.

Die Nächsten kamen nach Beginn des Ersten Weltkriegs. Das deutsche Kaiserreich hatte weite Gebiete des Zarenreichs erobert, etwa Litauen und Polen. Sie seien als Befreier gekommen, behaupteten die Männer mit den Pickelhauben, und verlangten von Zehntausenden ostjüdischen Männern einen Arbeitseinsatz in deutschen Fabriken. Nach Kriegsende 1918 schließlich entzündeten russische Revolutionäre und Konterrevolutionäre einen Bürgerkrieg. Hunderte kleine und große Pogrome überzogen Weißrussland und die Ukraine. Viele überlebende Juden flohen nach Westen. Manche von ihnen ins Scheunenviertel.

Polizisten in Unifrom 20er Jahre in einer Straße, Menschen sind verhaftet und auf die Ladefläche eines LKW gebracht

Berlin, Grenadier­straße, November 1923: eine Razzia der Sicherheitspolizei Foto: Walter Gircke/Ullstein

Joseph Roth hat den Zuzug der Juden aus dem Osten 1927 so zusammengefasst: „Kein Ostjude geht freiwillig nach Berlin. Wer in aller Welt kommt freiwillig nach Berlin? Berlin ist eine Durchgangsstation, in der man aus zwingenden Gründen länger verweilt. Berlin hat kein Ghetto. Es hat ein jüdisches Viertel. Hierher kommen die Emigranten, die über Hamburg und Amsterdam nach Amerika wollen. Hier bleiben sie oft stecken. Sie haben nicht genug Geld. Oder ihre Papiere sind nicht in Ordnung. (Freilich: die Papiere! Ein halbes jüdisches Leben verstreicht in zwecklosem Kampf gegen Papiere.)“

Die Grenadierstraße war ein ostjüdisches Paralleluniversum mitten in Berlin, mit koscheren Restaurants, orthodoxen Betstuben in Hinterhäusern und hebräischen Buchhandlungen. Hier wurde Jiddisch gesprochen, hier liefen Rabbiner mit Pelzhut und langem Bart, Gläubige mit Schläfenlocken (Pejes) und Tefilin, wie die Gebetsriemen genannt werden, über die Straße, und die Ehefrauen trugen Perücken über ihren geschorenen Haaren.

Juden aus Osteuropa: sehr religiös

Und weil die Menschen kaum das Schwarze unter ihren Fingernägeln besaßen, mussten sie mit allem handeln, was noch irgendwie verkäuflich war: Lumpen, Altkleider, Knöpfe, Hosenträger, Schnürsenkel, Strümpfe. Notfalls tat es auch Bettelei. Dazu brauchte das Viertel eine komplette jüdische Infrastruktur mit koscheren Fleischereien und Backstuben, Geflügel- und Eierhändlern und selbstverständlich einem Fischverkauf, weiterhin religiöse Gebrauchswaren von Kippa bis zu Tefillin. Denn die Juden aus Osteuropa waren in aller Regel sehr religiös.

Da gab es in der Grandierstraße an der Ecke zur Hirtenstraße das Logirhaus Centrum (heute steht dort ein Plattenbau). Die Nummer 31 (heute 16) beherbergte neben der Talmud-Torah-Schule gleich vier Betstuben. Vor 40 Jahren schienen die alten hebräischen Schriftzeichen eines Geschäfts an dieser Hausnummer durch die nicht mehr frische Farbe der Fassade hindurch. Heute ist alles glatt und sauber. Vor der Haustür ist ein Eisengitter nebst zweier Videoanlagen installiert.

Und dann gab es die Läden: In der 28 befand sich die hebräische Buchhandlung von Hirsch Lewin, wo man auch Schallplatten und religiöse Gebrauchsgegenstände wie Gebetsmäntel anbot. Absolut nichts erinnert heute daran. In der Nummer 15 konnte man im Krakauer Café der Familie Kempler koscheres Gebäck genießen. Nicht zu vergessen die Nummer 7 (heute 43), wo es noch einen Buchladen gab. Die meisten Häuser stehen noch. Aber Steine sprechen nicht.

Ach, ein jüdisches Schtetl mitten in Berlin, wie gern wären wir da einkaufen gegangen, mögen jetzt manche denken. Ganz so romantisch war es aber nicht. Denn erstens ist Armut nie romantisch. Und zweitens galt das Scheunenviertel auch als Ort des Verbrechens: der kleinen und der großen Gauner und Diebe, jüdischer wie nichtjüdischer, denn dort lebten auch viele Christen. Taschendiebstahl war notorisch in der Gegend verbreitet, Diebstahl ebenfalls, Mord glücklicherweise weniger, behauptet zumindest Joseph Roth. An der Einmündung der Grenadierstraße zur Münzstraße befand sich mit der Münzglocke ein bekanntes Lokal der Berliner Unterwelt.

Nicht eben der allerbeste Ruf

Die 1905 geborene Schauspielerin Mischket Liebermann wusste dazu die Anekdote beizutragen, nach der die jüdische Diebesbande, die die Wohnung ihres Vaters, eines angesehenen Rabbiners, ausgeraubt hatte, alle gestohlenen Gegenstände nach einer Beschwerde beim Bandenboss wieder zurückbrachte. Dies traf freilich nicht auf alle Bestohlenen zu.

Man kann sich also vorstellen, dass die Grenadierstraße nicht eben den allerbesten Ruf besaß. Es war ähnlich wie heute: Das Scheunenviertel entwickelte sich zu einer eigenen Blase, so wie die Gegend um die Sonnenallee in Neukölln. Der Begriff Parallelgesellschaft war noch nicht erfunden, aber etwas derart Undeutsches galt schon damals als höchst gefährlich. Juden aus Osteuropa wurden im „aufgeklärten“ Westen ohnehin als rückständig betrachtet, auch bei den zu Wohlstand gekommenen deutschen Juden, die sich sorgten, dass diese Ultraorthodoxen aus dem Osten die eigene Emanzipation gefährden könnten.

Den Antisemiten waren die „Kaftanjuden“, wie es abschätzig hieß, verhasst und sie wurden wahlweise als Kommunisten oder Wucherer verdächtigt. So mutierte das Scheunenviertel in den Augen der völkischen Rechten zum „jüdischen Verbrecherzentrum in Berlin“, das es auszuräuchern gelte. Solche Vorstellungen reichten weit ins bürgerliche Lager hinein. Selbst Sozialdemokraten verlangten eine Lösung des „Ostjudenproblems“, auch wenn alles in allem nur ein paar Zehntausend Menschen eingewandert waren. Die Saat für das Pogrom von 1923 war gesät.

historische Aufnahme, Blick in eine belebte kleine Straße mit vielen Menschen und Autos

Alltagsszene im belebten Scheunenviertel Anfang der 1930er Jahre Foto: Abraham Pisarek/AKG

Falladas Geschichten

Hans Fallada zählte zu den Schriftstellern, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland blieben und versuchten, sich mit harmlosen Geschichten über Wasser zu halten. Über das Scheunenviertel brachte er eine angeblich selbst erlebte Kindheitserinnerung mit deutlich antisemitischen Anleihen zu Papier:

„Jüdische Händler im Kaftan mit langen, schmierigen, gedrehten Löckchen, Kleider über dem Arm, strichen durch die Menge und flüsterten bald hier, bald dort Anpreisungen. Vor einem Kellereingang saß ein dickes, schmieriges Weib, hatte den Kopf eines jaulenden Pudels zwischen die Beine geklemmt und schor ihm mit einer Art Rasenschere den Hinterteil. […] Es wurde uns unheimlich, wir machten, dass wir davonkamen. Aber an der nächsten Straßenecke hielt uns ein Kaftanjude an, flüsternd, in einem kaum verständlichen Deutsch schlug er uns vor, ihm unsere Wintermäntel zu verkaufen. ‚Zwei Mork das Stück! Und eurer Momme seggt ihr, ihr hebbt se verloren …‘ Dabei fing er schon an, mir meinen Mantel aufzuknöpfen. Mit Mühe riss ich mich los, Fötsch und ich fingen an zu laufen. […] Eine ganze Horde stürzte schreiend, lachend, hetzend hinter uns her.“

Als Falladas Erinnerungen 1941 als Buch erschienen, begannen die Deportationen der Berliner Jüdinnen und Juden in den Tod.

Im und nach dem Ersten Weltkrieg gab es freilich auch solidarische Hilfe für die verarmten Bewohner des Viertels. Nur eine Parallelstraße von der Grenadierstraße entfernt, in der Dragonerstraße (heute Max-Beer-Straße), erinnert an der Hausnummer 5 (damals 10) eine Tafel an den Gründer des Jüdischen Volksheims, Siegfried Lehmann (1892–1958).

Schwärmereien fürs Ostjüdische

Das Volksheim kümmerte sich um verwahrloste Jugendliche und Waisenkinder und bot sich als Treffpunkt an. Seine Aktivisten waren Zionisten, für die die Juden aus Osteuropa sinnbildlich für die Rückkehr des Volks zu den kulturellen Wurzeln standen.

Das stieß bei vielen jüdischen Intellektuellen auf Zustimmung, so bei Franz Kafka, der seine Freundin Felice Bauer darum bat, dort doch einmal vorbeizuschauen. Auch der Anarchist Gustav Landauer war des Lobes voll. Der junge Gershom Scholem (ein jüdischer Religionshistoriker) blieb gegenüber den Schwärmereien für alles Ostjüdische skeptisch und erklärte: „Man möge doch, statt sich mit solchem Unfug und literarischem Geschwätz zu befassen, lieber Hebräisch lernen und zu den Quellen gehen.“

Und Lehmann? Der wanderte in den 1920er Jahren nach Palästina aus und gründete dort das Kinderdorf Ben Shemen, das in der Nazizeit ohne ihre Eltern nach Eretz Israel geflüchtete Kinder aufnahm.

Werner Senator (1896–1953) hieß ein anderer Aktiver beim Volksheim. Er war im Arbeiterfürsorgeamt tätig, das Sozialarbeit unter Ostjuden unternahm. 1922 machte Senator deutlich, dass es nicht einfach darum ginge, Brot und Suppe zu verteilen: „Nur wenn man klar und unbeirrt diesen Weg der Erkämpfung von Rechten für die Ostjuden ging, nur wenn man entschlossen diese jüdische Politik verfolgte, wenn man Vorkämpfer wurde für die Idee der Schaffung eines Zustandes, der die Rechtlosigkeit des Ausländers in Deutschland aufhebt, nur dann war es möglich, Sozialpolitik und Wohlfahrtspflege für die Ostjuden in Deutschland zu treiben“, schrieb er.

Bewaffnete jüdische Selbstwehr

Senator war es auch, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs eine bewaffnete jüdische Selbstwehr gründete, die ihr Quartier im Volksheim hatte. Diese Gruppe scheint sich bald aufgelöst zu haben. Wohl aber sollten sich bewaffnete Angehörige des konservativen Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten zum Schutz der Bewohner des Scheunenviertels an jenem verhängnisvollen 5. November 1923 im Viertel befunden haben.

„Die antisemitische Saat ist aufgegangen“, schrieb der sozialdemokratische „Vorwärts“ am 8. November 1923. „Berlin hat sein Judenpogrom gehabt. Berlin ist geschändet worden“

„Ich bin seit 1907 in Berlin, bin Kriegerwitwe. Mein Mann war österreichischer Staatsbürger und ist im Kriege gefallen. Ich betreibe in der Hirtenstraße 12 a ein Zigarettengeschäft. Am Montag, dem 5. 11. 23, ging ein größerer Haufen durch die Straßen und drang in meinen Laden, zertrümmerte die Fensterscheiben und räumte sämtliche im Laden befindliche Ware aus, sowie die Tageseinnahme. Ich bin durch die Plünderung in schwere wirtschaftliche Not geraten.“

Protokoll der Witwe Theodora Rosenblüth

Im Herbst 1923 befand sich die Inflation auf dem Höhepunkt. Der Preis für ein Laib Brot stieg auf bis zu 233 Milliarden Mark. Banken waren zusammengebrochen, die Arbeitslosigkeit stieg. Dazu kam eine politische Krise. Der rechtsradikale Kapp-Putsch war gerade zurückgeschlagen worden. Am 5. November ging das Gerücht um, dass das Arbeitsamt Geldauszahlungen vornehmen würde. Dies entpuppte sich als falsch. Der Masse von Erwerbslosen sei danach von Agitatoren erzählt worden, die Juden im Scheunenviertel hätten das Notgeld aufgekauft, berichten Zeitungen am Folgetag.

Die Vossische Zeitung schrieb: „Man riss die Firmenschilder ab, schlug die Fensterscheiben ein, und bedrohte die Geschäftsinhaber, falls sie nicht ihre Ware unter der Menge verteilten. Ein Privatauto, das durch die Grenadierstraße fuhr, wurde angehalten, der Besitzer des Wagens herausgeholt und verprügelt und das Auto selbst demoliert. Während dieser Vorgänge war weit und breit kein Polizeibeamter zu sehen.“

Die Plünderer seien planmäßig vorgegangen und hätten offenbar Anführer gehabt, heißt es in einigen Augenzeugenberichten. In der Münzstraße hätte die Menge einen Jugendlichen zunächst ausgezogen und dann halb tot geschlagen. Einem Bericht zufolge wurde der Metzger Silberberg so schwer misshandelt, dass er seinen Verletzungen erlegen sei. Allerdings ist diese Meldung nie bestätigt worden.

Nach einem Text der Jüdischen Rundschau beteiligten sich Tausende an dem Pogrom. „Man verfolgt dabei die Taktik, die Polizei zu ermüden. 50 bis 60 junge Burschen sammeln sich an einer Straßenecke an und beschäftigen die Sicherheitsbeamten. Im Rücken dieser Trupps wird dann von 12 bis 15 Personen geplündert. Wollen dann die Beamten eingreifen, so versperrt der deckende Haufen den Weg.“

Ein bewaffneter Trupp aus den Reihen des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten sei den Angegriffenen zu Hilfe geeilt, wurde aber von der inzwischen anwesenden Polizei angegriffen, festgenommen und misshandelt. Dem Arzt Hugo Bernhard wurde dabei die Hand gebrochen.

Die Polizei benötigt geschlagene zwei Stunden, um die Ausschreitungen zu beenden und das Viertel abzusperren; 129 Personen wurden festgenommen, davon 81 vorläufig in der Haft behalten. Am nächsten Tag flammen die Angriffe erneut auf, werden aber rascher beendet. „Die antisemitische Saat ist aufgegangen“, schrieb der sozialdemokratische Vorwärts am 8. November. „Berlin hat sein Judenpogrom gehabt. Berlin ist geschändet worden.“

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Zu dem Pogrom erklärte die Polizeiinspektion Alexanderwache am 7. Dezember 1923, die Juden seien daran selbst schuld gewesen, da sie die Arbeitslosen betrogen hätten. Ein Prozess gegen Polizeibeamte, die die Männer des Reichsbunds jüdischer Frontsoldaten misshandelt hatten, endete 1925 mit der Verurteilung von drei Beamten zu geringfügigen Strafen, die bald danach aufgehoben wurden.

Wer die Agitatoren waren, die die Arbeitslosen zum Pogrom aufhetzten, ist nie geklärt worden. Es wurden gar Zweifel gesät, ob es diese überhaupt gegeben hat.

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