Palästinensisches Leben in Berlin: Bedrückende Sicherheit

Ein palästinensischer Journalist entgeht in Gaza nur knapp dem Tod. Nach zweieinhalb Jahren auf der Flucht beginnt er ein neues Leben in Berlin.

Ein Mann sitzt mit dem Rücken zur Kamera auf dem Boden eines kleinen Zimmers.

Saleh Almabhouh in seiner Kammer Foto: Christoph Mayer

BERLIN taz | Saleh Almabhouh lebt in einem 9-Quadratmeter-Zimmer im Wedding. „Gott hat ein neues Leben für mich geschrieben“, sagt der 28-jährige Palästinenser, während er Nüsse aus einer Tüte auf einen Teller kippt. Sein Blick ist hellwach, doch seine Augen verraten, dass ihn sein noch junges Leben mehr Kraft gekostet hat, als eine menschliche Seele normalerweise ertragen kann. Seine Flucht aus Gaza begann 2021, bis er endlich Berlin erreichte, wo er seit Juli 2023 in der kleinen Kammer wohnt.

Nach seiner Ankunft in Berlin verbringt Almabhouh die ersten Monate im Erstaufnahmezentrum für Geflüchtete auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof, bis er sein jetziges Zimmer im Wedding bekommt. Hier sei sein neues Zuhause, erklärt der junge Mann, während er sich vergewissernd in dem Raum umsieht. Ein Schrank, ein Bett und eine Kommode, auf der ein Fernseher steht, dessen Bildschirm weite Teile der Wand bedeckt. Mehr besitzt er nicht. Das Bad und die Küche teilt er sich mit zwei Männern aus Tunesien beziehungsweise der Türkei.

Er fühle sich sicher in Berlin, sagt er nach kurzem Zögern. Auch wenn er bislang nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung hat. Und obwohl er gleich nach seiner Ankunft von vier Sicherheitskräften an einem U-Bahnhof festgehalten und geschlagen worden sei, weil er kein Ticket vorzeigen konnte, wie er erzählt. Aber abgesehen davon habe er nur gute Erfahrungen mit den Menschen hier gemacht.

Saleh Almabhouh arbeitet seit einiger Zeit in einer Pizzeria in Schöneberg. An sechs Tagen in der Woche jeweils zehn Stunden, ohne Pausen, sagt er. Am Abend erhält er dafür 100 Euro. Den Großteil des Geldes schickt er seiner Familie nach Gaza. Eigentlich ist Almabhouh studierter Journalist. 2015 begann er, den Alltag im Gazastreifen zu filmen. Das wurde ihm schließlich zum Verhängnis.

Almabhouhs Flucht aus Gaza begann schon 2021

„Am 24. Dezember 2018 filmte ich bei einer friedlichen Demonstration an der nördlichen Grenze von Gaza, als ein israelischer Scharfschütze eine Kugel auf meine Kamera abfeuerte“, erzählt er. „Ein Splitter des Geschosses traf mich in die Brust.“ Ein Foto zeigt die etwa zwei Zentimeter große Einschlagstelle unter seinem linken Schlüsselbein, die aussieht wie der Krater eines Miniaturvulkans. Die Narbe bereite ihm noch heute manchmal Schmerzen, sagt er und fügt hinzu: „Nach dem Angriff war für mich klar, dass ich Gaza verlassen muss.“

Eine Familie in Gaza steht vor einem Trümmerhaufen

Almabhouhs Familie in Gaza Foto: Muhammad Aql & Muhammad Al-Mabhouh

Auch wenn Almabhouh sich in Berlin wohlfühlt, hat sich sein Leben seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem darauffolgenden Angriff Israels auf Gaza stark verändert. Der Krieg ist zwar in der Ferne, aber für ihn dennoch nah. Denn seine Familie befindet sich noch in Gaza und die Wunden der eigenen Gewalterfahrung brechen wieder auf.

„Ich lebe in einem Körper ohne Seele“, antwortet er auf die Frage, wie er sich fühlt, wenn er über sein ehemaliges Zuhause spricht. Dann erzählt er mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme von dem Bombenangriff der israelischen Armee auf sein Elternhaus am 12. November vergangenen Jahres: „Meine Eltern, meine Schwester, mein Bruder und ihre Kinder, sie sind alle tot.“

Er öffnet den Familienchat auf Whatsapp, in dem die meisten Nummern deaktiviert wurden. Er zeigt Fotos einer verwüsteten Straße, von lebenden und auch inzwischen verstorbenen Menschen, deren Namen er aufzählt. Dann schweigt er einen Moment, bevor er fortfährt: Die israelische Armee habe alle Häuser in der Straße unter Beschuss genommen. Seine früheren Nachbarn hätten den Angriff alle wie durch ein Wunder überlebt, sagt er und schiebt ein leises „In schāʾa ʾllāh“ („so Gott will“) hinterher.

Vor den Teilnehmenden erzählt er seine Fluchtgeschichte

Ein paar Stunden später steht der junge Palästinenser an der Theke seiner Arbeitsstelle. Vor Kurzem hat er seine Arbeitszeiten verdoppelt. Die Situation seiner verbliebenen Familie und der Krieg belasten Saleh Alma­bhouh schwer, er findet nur noch sporadisch Schlaf. Der Alltag in Berlin geht für ihn trotzdem weiter. Während seine Familie in permanenter Lebensgefahr ist, schiebt er fortlaufend Pizzen in den Ofen.

Heute wird er seine Schicht etwas früher beenden, um in dem sonntäglich stattfindenden „Palästina Café“ im Wedding seine Geschichte zu erzählen. Seit Oktober 2023 treffen sich dort Menschen mit unterschiedlichen Nationalitäten, um gemeinsam zu essen, sich auszutauschen und Solidaritätsaktionen für die Bevölkerung in Gaza zu organisieren.

Er sei oftmals der einzige Palästinenser, sagt Almabhouh. Jemanden aus Gaza habe er dort noch nie getroffen, aber immerhin könne er sich in seiner Muttersprache verständigen. Vor rund 50 Teilnehmenden erzählt er seine Fluchtgeschichte und vom Schicksal seiner Familie. Gegen Ende schaltet er seine 13-jährige Nichte Lana per Telefon aus dem Gazastreifen dazu. Sie schildert dem Berliner Publikum ihre Eindrücke aus Dschabalja, dem größten der palästinensischen Flüchtlingslager im nördlichen Gaza.

Hier lebt sie inzwischen mit ihren Eltern, seitdem ihr Zuhause zerstört wurde. Als im Hintergrund die israelischen Kampfjets zu hörten sind, redet Lana lauter. Seit Wochen habe ihre Familie nicht mehr auskömmlich gegessen, sagt sie. Nachts würde man Kinder vor Hunger weinen hören. Mittlerweile würde die Familie von Tierfutter leben, bald müssten sie wahrscheinlich streunende Katzen und Hunde auf dem Grill zubereiten. Dabei ernähre sich ihre Familie eigentlich vegetarisch, sagt sie, während sich bei Almabhouh sorgenvoll die Stirn zusammenzieht.

Der junge Palästinenser ist sich bewusst, dass seine Möglichkeiten, seiner Familie in Gaza zu helfen, begrenzt sind. Untätig bleiben kann er aber auch nicht. Deshalb hat er vor Kurzem auf einem Online-Portal eine Spendenkampagne geschaltet. Als Ziel hat er 70.000 Euro angegeben. Damit könne er für zehn Personen den Grenzübertritt nach Ägypten bezahlen, sagt er.

Vier Nächte verbringt Alma­bhouh im Gefängnis von Bodrum

Sollte das Etappenziel erreicht werden, wolle er den Betrag auf das Doppelte erhöhen, um allen 19 Familienmitgliedern die Flucht aus dem Gazastreifen zu ermöglichen. So weit ist er aber noch lange nicht: Rund 1.500 Euro sind bislang auf dem Konto eingegangen. In einem Update vom vergangenen Freitag schreibt er: „Vor zwei Wochen konnte ich meiner Familie 1.500 Euro senden, gestern weiter 500 Euro. Mit dem Geld können sie sich Mehl und andere dringend benötigte Lebensmittel und Hygieneartikel kaufen.“

Es scheint, als könnten nur ein paar göttlich angefügte Nullen helfen, damit Almabhouh seine Familie nach Deutschland holen kann. Anschließend müsste dieser Gott seine Hand über die Familie halten, damit sie die gefährliche Flucht auch überlebt.

So wie Saleh Almabhouh selbst. Als er im vergangenen Jahr in Berlin ankommt, hat er eine zweijährige Odyssee hinter sich. Im April 2021 überquert er die südliche Grenze des Gazastreifens nach Ägypten. Mit seinem Handy hat er die 28 Monate seiner Flucht dokumentiert. Er geht zuerst nach Kairo, wo er sich mit dem Wenigen, was er gespart hat, ein Flugticket nach Istanbul kauft. Von dort bricht er Anfang 2023 zur Halbinsel Bodrum an der türkischen Ägäis auf.

Bis zur griechischen Insel Kos sind es von dort noch rund zwölf Kilometer Seeweg. Statt wie viele andere Geflüchtete in ein überfülltes Schlauchboot zu steigen, das die gefährliche Überfahrt vielleicht nicht übersteht, will Alma­bhouh schwimmen. Es ist ein waghalsiges Unterfangen: Selbst mit guter Kondition dauert die Strecke mehrere Stunden und Anfang des Jahres ist das Wasser eisig kalt. Hinzu kommen unberechenbare und gefährliche Strömungen. Doch Saleh Almabhouh hat einen Neoprenanzug und geht das Risiko ein.

Sein erster Versuch, über das Mittelmeer nach Griechenland zu schwimmen, scheitert. Er unterschätzt die Strömung und schließlich entdeckt ihn die griechische Küstenwache in den Wellen. Statt dem unterkühlten Mann eine Decke zu reichen, hätten die Beamten ihn mit Elektroschocks gequält, bevor sie ihn der türkischen Polizei übergaben, erzählt Almabhouh. Möglicherweise als Abschreckung vor einem einen weiteren Fluchtversuch oder als Bestrafung, mutmaßt er. So oder so wäre das Vorgehen illegal, weil ihm dadurch das Recht auf ein Asylverfahren verwehrt wurde. Menschenrechtsorganisationen berichten immer wieder von solchen Pushbacks an der griechisch-türkischen Grenze.

Er muss schwimmen für seine Freiheit

Vier Nächte verbringt Saleh Alma­bhouh im Gefängnis von Bodrum. Nach seiner Entlassung muss er sich fünf Tage lang von den Belastungen erholen, dann schnappt er sich seinen Neoprenanzug und wagt einen zweiten Versuch. Er muss schwimmen für seine Freiheit. Dieses Mal schafft er es: Nach acht Stunden erreicht er Griechenland. Danach verläuft seine Flucht nach Berlin fast reibungslos.

Die temporäre Aufenthaltserlaubnis, die Almabhouh bekommen hat, bietet dem jungen Mann jedoch keine langfristigen Perspektiven. Eine Anerkennung als politisch Verfolgter hätte ihm dauerhaftes Asyl gewährt, doch seine Narben von der Schussverletzung waren für die Behörden nicht ausreichend. Im Juli muss er die Verlängerung seines Aufenthaltsstatus beantragen. Wie es bis dahin mit seiner Familie weitergeht, steht in den Sternen.

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