Aufmerksamkeitsökonomie: Wo ist die Konzentration hin?

Menschen bleiben teilweise nur Sekunden bei einer Aufgabe. Ein Sachbuch erklärt, wie wir am Bildschirm die Aufmerksamkeit verlernt haben.

Mehrere Kinder auf eine Parkbank mit Smartphones.

Endlos auf dem Smartphone scrollen Foto: imago

BERLIN taz | „Es ist nicht Ihre Schuld, dass Sie sich nicht konzentrieren können“, schreibt der britische Journalist Johann Hari. „Das ist gewollt.“ In seinem Buch „Stolen Focus“ (Gestohlener Fokus) analysiert Hari, warum die menschliche Aufmerksamkeitsspanne seit Jahrzehnten abnimmt und wie Technologien diese Entwicklung beschleunigen.

Hari war unzufrieden damit, wie er selbst ständig von Gerät zu Gerät und von Medium zu Medium wechselte. Er probierte deshalb zunächst Selbsthilfemaßnahmen aus, verzichtete sogar drei Monate lang auf internetfähige Geräte. Doch wenige Wochen nach dem digitalen Retreat trieb er genauso frustriert durch das Internet wie zuvor. Also begab er sich auf eine Reise um die Welt und befragte die führenden Experten für menschliche Aufmerksamkeit nach den Ursachen seines Dilemmas.

In dem Buch finden sich verblüffende Fakten. Die durchschnittliche Zeit, die sich amerikanische Studierende auf eine Sache konzentrieren, beträgt nur neunzehn Sekunden. Dann switchen sie zur nächsten Aufgabe.

Bevor sich Ältere nun beherzt auf die Schultern klopfen: In einer anderen Studie untersuchte eine Forscherin, wie lange Erwachsene, die in einem Büro arbeiten, durchschnittlich an einer Aufgabe dranbleiben. Es waren drei Minuten. Eine Studie des Psychologen Michael Posner ergab zudem, dass es im Durchschnitt dreiundzwanzig Minuten dauert, bis sich eine Person wieder auf eine Sache konzentriert, nachdem sie unterbrochen wurde.

Technologieunternehmen stehlen Aufmerksamkeit
Johann Hari, Journalist

Wir sind keine mittelalterlichen Bauern, die am Hof von König Zuckerberg um Brotkrümmel der Aufmerksamkeit betteln. Wir sind freie Bürgerinnen und Bürger

In „Stolen Focus“ argumentiert Hari stets, dass nicht die Menschen selbst das Problem sind. Die Schwierigkeit, sich zu konzentrieren, sei ein systemisches Problem: Die großen Technologieunternehmen hätten ein Umfeld geschaffen, das Aufmerksamkeit regelrecht stiehlt. Die klügsten Köpfe der Welt verdienten ein Vermögen damit, Menschen dazu zu bringen, ihre Bildschirme nicht abzuschalten, indem sie sie durch eine schnelle Abfolge unterschiedlichster Inhalte schicken.

Ein Beispiel dafür ist der Infinite-Scroll-Algorithmus. Ältere Le­se­r*in­nen werden sich daran erinnern, dass auch soziale Medien wie Facebook früher in Seiten unterteilt waren. Wenn man an das Ende einer Seite gelangte, musste man klicken, um auf die nächste Seite zu kommen. Mittlerweile laden Anwendungen wie Facebook und Instagram automatisch neue Inhalte nach, wenn man nach unten scrollt.

Deshalb ist für Hari der Kampf um Aufmerksamkeit kein Kampf, den man mit Willenskraft gewinnen kann. Auch ein digitaler Entzug sei nicht die Lösung. Stattdessen zieht Hari in den Krieg mit Google und Meta: „Wir sind keine mittelalterlichen Bauern, die am Hof von König Zuckerberg um Brotkrümmel der Aufmerksamkeit betteln. Wir sind freie Bürgerinnen und Bürger von Demokratien, und wir besitzen unseren eigenen Verstand und unsere eigene Gesellschaft“, schreibt Hari.

Keineswegs ein Technikfeind

Johann Hari: „Stolen Focus: Why You Can’t Pay Attention“. Bloomsbury Publishing, London 2023, 352 Seiten, 12 Euro

Seine Lösung skizziert er in einem 3-Punkte-Plan: Hari möchte den Überwachungskapitalismus verbieten, weil absichtlich manipulierte Menschen sich nicht konzentrieren können, und die Vier-Tage Woche einführen, damit überarbeitete Menschen wieder mehr mentale Kapazitäten haben. Damit die künftige Generation eine gesunde Beziehung zu ihrer eigenen Aufmerksamkeit entwickelt, plädiert er dafür, Kinder frei spielen zu lassen, anstatt sie in Kinderzimmern und Schulen zu verwahren.

Der Autor klingt dabei keineswegs wie ein Technikfeind, dem die moderne Welt über den Kopf wächst. Sondern er kommt mitten aus der Tech-Blase und erlebt den Wandlungsprozess an der eigenen Person. Das Buch liest sich deshalb nahbar und ist voller Selbstironie. Einzig die Botschaft ist keine Gute: Gibt es wirklich Anlass zur Hoffnung, dass Politik und Gesellschaft es schaffen können, dem Aufmerksamkeitsdiebstahl ein Ende zu setzen? Johann Haris vage formulierter Drei-Punkte-Plan wirkt gegenüber den ausgeklügelten Algorithmen eher wie eine blasse erste Skizze einer Lösung.

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