Utopische Szenarien: Die Chance des Fehlers

Ursula Le Guins utopische Welt ohne Eigentum und Regierung ist zwiespältig. Ausgrenzende Kontrollmechanismen gibt es trotzdem.

Mietfreie Utopia-Insel Neu-Lummerland in der Rummelsburger Bucht, Berlin. Im Sommer 2020 aufgelöst Foto: Julian Röder

DIE UTOPIE

von Ursula Le Guin

Im dritten urrasischen Jahrtausend hatten die Astronomenpriester von Serdonou und Dhun beobachtet, wie sich das helle Lohbraun der Anderwelt mit der Jahreszeit wandelte, und den Ebenen und Bergzügen und sonnespiegelnden Meeren mystische Namen gegeben. Eine Region, die vor allen anderen im neuen Mondjahr grün wurde, nannten sie Ans Hos, Garten des Geistes: das Eden von Anarres.

In späteren Jahrtausenden hatten Fernrohre ihnen recht gegeben. Ans Hos erwies sich tatsächlich als schönster Fleck von Anarres, und das erste bemannte Schiff zum Mond landete dort auf dem grünen Landstrich zwischen den Bergen und dem Meer.

Doch das anarresische Eden erwies sich als trocken, kalt und windig und der Rest des Planeten als noch unwirtlicher. Die Evolution war nicht über Fische und blütenlose Pflanzen hinausgegangen. Die Luft war so dünn wie die Luft auf Urras in sehr großer Höhe. Die Sonne brannte, der Wind war eisig, der Staub verstopfte die Atemwege.

[... Im] Jahr 771 wurde im Rat der Weltregierungen vorgeschlagen, den Mond dem Internationalen Verband der Odonier zu überlassen – sich mit einer Welt von ihnen loszukaufen, bevor sie die herrschenden Gesetze und die Souveränität der Nationalstaaten auf Urras vollständig untergruben. Anarres-Stadt wurde evakuiert, und aus Thu wurden inmitten des Chaos ein paar letzte Raketen losgeschickt, um die Goldgräber abzuholen. Nicht alle entschlossen sich zur Heimkehr. Einigen gefiel die stürmische Einöde.

Über zwanzig Jahre pendelten die zwölf Schiffe, die den odonischen Aussiedlern vom Rat der Weltregierungen bewilligt worden waren, zwischen den Welten hin und her, bis die Million Seelen, die sich zu dem neuen Leben entschlossen hatten, vollständig über den Abgrund der Leere befördert worden waren. Dann wurde der Hafen für Einwanderer geschlossen und blieb nur mehr für die Frachtschiffe des Handelsabkommens geöffnet. In dieser Zeit war die Bevölkerung von Anarres-Stadt auf hunderttausend angewachsen, und der Ort war in Abbenay umbenannt worden, ein Name, der in der neuen Sprache der neuen Gesellschaft „Geist“ bedeutete.

[…] Die Gebäude der Stadt waren einander fast durchweg ähnlich: schlichte, solide Bauten aus Stein oder gegossenem Schaumstein. Einige wirkten in Sheveks Augen ziemlich groß, doch wegen der häufigen Erdbeben war kaum eines mehr als eine Etage hoch. Aus demselben Grund waren die Fenster klein und aus einem zähen Silikonkunststoff, der nicht zersplitterte. Sie waren klein, aber zahlreich, denn es gab von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und je eine Stunde davor und danach kein künstliches Licht. Wenn die Außentemperatur 13 Grad Celsius überstieg, wurde nicht geheizt. Der Grund war nicht, dass in Abbenay mit seinen Windturbinen und dem von Erdwärme-Differenz-Generatoren die Energie knapp gewesen wäre, sondern vielmehr, dass sämtliche Bereiche der Gesellschaft zu sehr vom Prinzip organischer Wirtschaftlichkeit geprägt waren, als dass Ethik und Ästhetik hätten ausgenommen sein können. »Exzess ist Exkrement«, hatte Odo in der Analogie geschrieben. »Exkremente, die im Körper verbleiben, sind Gift.«

Abbenay war giftfrei: eine schlichte Stadt, blankgeputzt, die Farben hell und hart, die Luft rein. Sie war still. Sie war ganz und gar zu sehen, lag so offen da wie verschüttetes Salz.

Nichts war verborgen.

Ursula K. Le Guin: Freie Geister. Eine zwiespältige Utopie. Frankfurt am Main: FISCHER Tor 2017 (übers. v. Karen Nölle, amerikanisches Original 1974), S. 106-108, 111f.

WAS AUS DER UTOPIE WIRD

von Zoë Herlinger

Anderthalb Jahrhunderte vor der Zeit, in der Ursula Le Guins »zwiespältige Utopie« spielt, hat sich eine Gruppe von Revolutionären des Planeten Urras auf den Mond Anarres abgesetzt, um dort eine anarchistische Utopie zu verwirklichen. Nun, nach mehreren Generationen der Trennung, gibt es einen ersten persönlichen Kontakt zwischen den beiden Gesellschaften: Shevek, ein anarresischer Physiker, macht sich nach Urras auf, um seine Erkenntnisse mit den Forschern der alten Welt zu teilen.

Er kommt nicht als Diplomat oder Gesandter seines Landes, denn in dem gibt es weder eine Zentralregierung noch Nationalstaatlichkeit. Im Gegenteil reist er unter dem Protest seiner Planetsleute ab, die ihm einen Verrat am anarresischen Experiment unterstellen. Auf Urras lernt Shevek eine reiche Welt kennen: reich, weil er in den Genuss des luxuriösen Lebens der aristokratischen Oberklasse kommt. Reich aber auch, weil der Planet selbst paradiesisch opulent ist. Die Natur ist üppig und bunt, Vögel zwitschern, Wälder sprießen – kein Vergleich zu der staubtrockenen Ödnis auf Anarres, wo Hungersnöte und Ressourcenknappheit selbst bei gerechtester Verteilung zum Alltag gehören.

Trotz seines Komforts und Pomps kommt Urras schlecht weg. Eigentum und Dominanzstreben haben den Planeten korrumpiert; Stellvertreterkriege, Ungleichheit und Ressourcenverschwendung werden vor einer hübschen Kulisse nicht unschuldiger.

Aber auch Anarres ist nicht perfekt. Nicht nur das Klima des Planeten ist harsch und unwirtlich, auch menschlich hat die Utopie Mängel. Mobbing und Ausgrenzung sind wirksame Sanktionen in einer Welt, in der das Kollektiv alles zählt. Und überall dort, wo es Expertise braucht, sprießen Türhüter und sich selbst stabilisierende Kontrollzentren. Die Staatsgewalt ist bloß einer informelleren Macht gewichen.

Die Frage, die Le Guin in ihrem Roman stellt, ist die nach der Freiheit. Sie wird wesentlich zwiespältiger beantwortet als in diversen Space Operas, die die Legende von der westlichen freien Welt gegen die Tyrannei schlecht versteckt in Weltraumkriegen wiederholen. Wie Shevek als Außenseiter beider Planeten zu spüren bekommt, haben beide ihre jeweils spezifischen Mauern. Urras baut die seinen gegen Besitzlose, Frauen und Fremde, obwohl es frei von jeder existenziellen Not sein könnte; Anarres ist zwar frei von Ausbeutung und den Zwängen des Geldes, unterliegt dafür einer stillen Herrschaft von Sozialkontrolle und gesellschaftlicher Konvention.

Wenn Anarres am Ende doch die Herzen gewinnt, dann, weil die imperfekte Utopie eine Chance des Fehlers offenlegt: nämlich Wandel und Neuordnung zu erlauben, im Gegensatz zu den uralten Herrschaftsverhältnissen auf Urras, die mit Geld und Waffen gewaltsam verteidigt werden müssen. Die odonische Philosophie, auf der die anarresische Gesellschaft fußt, schreibt eine fortwährende Revolution vor: Das heißt, wachsam für die wortwörtliche Macht der Gewohnheit zu bleiben und die Bürokratie als einziges Ordnungsinstrument immer und immer wieder neu zu bauen.

Le Guins Welt ohne Eigentum und Regierung ist nicht konfliktlos, nicht macht- oder fehlerfrei. Ihre klügsten Bewohner*innen wissen das und leiten daraus ein radikal demokratisches Versprechen ab: dass ein System sich den Menschen anpasst, aus denen es besteht, und nicht umgekehrt.

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