Website für Fußball-Spielerwechsel: Wie Fans Transfers beeinflussen

Online können Fans Fußballern Marktwerte zuweisen, die auch die Realität beeinflussen. So verschwindet Leidenschaft hinter Statistiken.

Fußballer Harry Kane begrüßt Fans

Ob sie auch im Stadion raten? Bayern-München-Fans begrüßen den Shootingstar Harry Kane Foto: Kai Pfaffenbach/reuters

An einem Montag Ende Juli um 1.36 Uhr rekapituliert Borusse91 (42.253 Beiträge, Mitglied seit 5. 8. 2007) noch einmal die Situation: „Ja, Sommer wird momentan bei Inter Mailand als Onana-Nachfolger gehandelt. Mit einem Neuer, von dem man nicht weiß, ob und wann er zu alter Stärke zurückfindet und einem Sven Ulreich in die Saison zu gehen, das wäre ja wahnsinnig.“

Das Gerücht über den marokkanischen WM-Torhüter Bounou vom FC Sevilla zum FC Bayern scheint dennoch kalt. Bloß 24 Beiträge umfasst der Thread, der auf einem dünnen Absatz eines Artikels der Sportseite ­spox.com fußt. Über dem Kommentarfeld wird die Marktwertentwicklung des Spielers in einer Kurve dargestellt, die an einen Aktienkurs erinnert. 12 Millionen Euro beträgt Bounous aktueller Marktwert.

Am rechten Rand wird die Wahrscheinlichkeit des Gerüchts ausgewiesen: 11 Prozent. Daneben illustriert ein roter Pfeil, der halbschräg nach unten strebt, die schwindende Erfolgstendenz. Der Fall ist klar: Das Gerücht ist tot. Zu dieser Erkenntnis kamen auch schon die User Balotelli-Experte, Spätzles-Bomber und TripleJupp, als das Gerücht im Dezember 2022 erstmals aufflammte.

Jetzt, zur Hochzeit der Transferperiode, in der Fußballvereine neue Spieler für die anstehende Spielzeit verpflichten können, brodelt die Gerüchteküche wieder. Gerüchteküche, so nennt die Seite transfermarkt.de die Hunderten von Foren, in denen zumeist junge bis mittelalte Männer über die Glaubwürdigkeit möglicher Spielertransfers diskutieren. Bekannt ist die Seite neben den Gerüchten vor allem für ihre Marktwerte.

Während der Transferzeit dienen sie unter Fans in den sozialen Netzwerken und in der Sportberichterstattung als Referenzwerte bei der Einschätzung eines potenziellen Spielerwechsels. Dabei handelt es sich bei den sogenannten Marktwerten, in Anbetracht ihrer Genese, buchstäblich um Fanfiction. Es sind die User der Plattform, die Presseartikel, Daten und Statistiken in detailversessener Akribie zusammenklauben und durch Forumsdiskussionen und Abstimmungen schließlich in eine Zahl gießen.

Erstaunliche Popularität

Hierbei wird eine Prognose der Ablösesumme für Spieler mit Wechselabsicht abgegeben, und jeder Spieler soll bis zur Landesliga Lüneburg mit einem geschätzten Tauschwert versehen werden. Das scheint in einem kommerzialisierten Profisport in der kapitalistischen Lebenswelt zunächst nicht überraschend.

Dennoch ist es erstaunlich, zu welcher Popularität die Seite auch bei Beratern, Vereinen und Sportberichterstattern über die Jahre gelangte. Vielfach ist verbrieft, dass die Marktwerte der Trans­fer­markt-Com­mu­nity auf die Verhandlungen realer Spie­ler­transfers Einfluss nahmen.

Für den Sportjournalismus gilt Vergleichbares. Wird über anstehende Spielerwechsel berichtet, so findet sich dort fast immer ein Marktwert von transfermarkt.de – und das nicht nur in den Erzeugnissen des Springer-Konzerns, der im Jahr 2008 die Anteilsmehrheit der Plattform übernahm. Transfermarkt.de gehört auch international zu den Top-Adressen, wenn es um Fußballdaten, Gerüchte und Marktwerte geht.

Auch von Spielern wird der Seite Bedeutung beigemessen. Cristiano Ronaldo soll einmal so über seinen Marktwert erzürnt gewesen sein, dass er das Portal zwischenzeitlich auf seinen Social-Media-Kanälen blockierte.

Die Geschichte der Ratingagentur des Fußballs und ihrer „Vermarktwertisierung“ zeigt die Rationalisierung und Verwertungslogik, wie sie für kapitalistische Gesellschaften charakteristisch ist.

Wie sehr das Denken der Community vom Marktgedanken geleitet ist, offenbarte sich, als wenige Wochen nach Kriegsbeginn bereits die ersten Nutzer Überlegungen anstellten, welche Spieler ukrainischer Vereine nun für kleines Geld zu haben sein könnten. Zum anderen zeigt sich am Erfolg der Seite auch eine faszinierende Verflechtung aus Fanfiction, Fußballindustrie und Sportjournalismus.

Starke Marktwertlogik

Deutlich wird das Geflecht aus Simulation und Realität anhand einer weiteren relevanten Einflussgröße des modernen Fußballs: der FIFA-Reihe von Electronic Arts und des Football Manager von Sports Interactive.

Die Videospielehersteller implementierten nicht nur den Transfermarkt und seine Marktwertlogik in ihre Computer- und Konsolenspiele, sondern führten auch das Scoring ein. Also die Bewertung der Stärke und des Potenzials jedes Spielers. Genauso wie bei transfer­markt.de basieren die Scores auf dem Prinzip des Crowdsourcings und seiner „Weisheit der vielen“-Philosophie.

Bei Electronic Arts können registrierte Nutzer die Spieler in verschiedenen Kategorien wie Tempo, Schießen oder Dribbling auf einer Skala von 0 bis 100 bewerten. Die Ergebnisse werden von circa 300 Redakteuren anschließend überprüft, bevor sie für die FIFA-Reihe festgelegt werden. Mit über 1.400 ehrenamtlichen Scouts aus 13 Regionen bezeichnen sich die Macher des Football Manager als größtes Scouting-Netzwerk im Weltfußball.

Dabei setzt die Simulation schon bei Spielern im U14-Bereich ein. Das Spiel ist längst über den virtuellen Rahmen hinaus als wichtige Datenquelle von der Fußballindustrie erkannt worden. Premier-League-Clubs gingen Kooperationen mit den Entwicklern ein, in der Hoffnung aus den Zahlen das nächste Wunderkind herauslesen zu können.

Zu einiger Berühmtheit brachte es in der vergangenen Saison auch die Geschichte von Will Still, einem passionierten Football-Manager-Zocker aus Belgien, der es vom Gaming-Stuhl bis auf den Cheftrainerposten des französischen Erstligisten Stade Reims schaffte.

Die Seite transfermarkt.de sowie die Spielereihen FIFA und Football Manager waren Geburtshelfer eines spätmodernen Fantypus, der in den sozialen Netzwerken und in Zeiten des Transferfensters zutage tritt.

Dieser Fan fühlt sich weder den anachronistischen Weizenbierpopulisten mit ihren Führungsspieler-, Leitwolf-, Wer-singt-die-Hymne-mit-Debatten zugehörig, noch den antibürgerlichen, kommerzialisierungskritischen Ultra-Gruppierungen in den Stadienkurven. Es ist ein Fantypus, der nicht über identifikatorischen Ver­eins­patriotismus oder Aspekte der Fußballkultur, sondern über die ökonomische Organisation der Fußballindustrie gebunden ist.

Daraus ergibt sich kein minder leidenschaftliches Fan-Dasein, im Gegenteil: Der spät­moderne Fan zeichnet sich durch Akribie, Detailversessenheit und ein Herz für Datenpflege und statistische Methoden aus.

Die ökonomische Bindung zeigt sich ebenso im Phänomen des Fantasyfußballs. Bei der App Kickbase können User ihr eigenes Team aus Bundesliga-Spielern zusammenstellen und je nachdem, wie diese real an den Spieltagen performen, Punkte erhalten.

Das erinnert sowohl im Design als auch in ihrer Funktionslogik an eine Trading-App, wie eine Fußballvariante von „Planspiel Börse“. Der Transfermarkt bei Kickbase ist immer geöffnet, die Marktwerte verändern sich täglich auf Grundlage algorithmischer Angebots-und-Nachfrage-Analysen.

Sportjournalismus mischt mit

Ein niemals schließender Transfermarkt, das klänge sicherlich auch in den Ohren vieler transfermarkt.de-User verheißungsvoll. Noch mehr Gerüchte könnten in Prozentzahlen gekleidet werden, noch dynamischer ließen sich die Marktwertkurven zeichnen. Allerdings befördert die Verknappung auf zwei Transferperioden im Jahr auch den Hype und Eventcharakter.

Transferjournalisten-Influencer wie Fabrizio Romano gehören zu diesem Spektakel genauso wie vermeintliche Vereinsinsider, die auf Twitter die geheimen Transferpläne ihres Lieblingsvereins zu enthüllen versprechen.

Auch der Sportjournalismus mischt kräftig mit. Beispielweise mit dem wöchentlichen Transfer-Update des Bezahlsenders Sky oder der von Jahr zu Jahr pompöser anmutenden Inszenierung des Deadline-Days –jenes magischen ersten Septembers, an dem das Transferfenster schließt und die letzten „Done Deals“ vermeldet werden können.

Letztlich, scheint es, unterscheidet sich der Gerüchtesumpf in den Foren vor allem darin vom Stammtischgeraune der Kneipentheke, dass er sich in den spätkapitalistischen Erzählweisen von Markt- und Wahrscheinlichkeitswerten ausdrückt.

Seine Fiktionen, Prämissen und Vorurteile verschwinden hinter nüchternen Scores und Rankings. Da er in der Sprache der Fußballindustrie kommuniziert, kommt dem spätmodernen Fan jedoch auch eine reale Handlungsmacht zu. Wie viel Einfluss er auf die Akteure dieser Industrie ausüben kann, zeigt nicht zuletzt die ­Erfolgsstory von transfermarkt.de.

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