Die Kontrolleurin der Textilfabriken: Madame Boss

Stefanie Santila Karl kontrolliert Textilfabriken in Asien. Über den Pragmatismus einer Idealistin.

Mode ohne Weitblick I. Bild: dpa

DEUTSCHLAND zeo2 | Die Damenbinde, die Stefanie Santila Karl den bengalischen Fabrikarbeiterinnen zeigt, ist drei Zentimeter dick und sieht eher aus wie ein Schwamm. Kein Vergleich zur europäischen Variante. Doch die westlichen Binden sind zu teuer, also stecken die Frauen sich in ihrer Not Stoffreste aus der Fabrik zwischen die Beine – das führt oft zu Infektionen. Die Schwammbinde, die Karl ihnen näher bringen will, wäre ein echter Fortschritt. Aber die Arbeiterinnen stehen verschüchtert abseits. Über so etwas wird nicht gesprochen.

Fünf Jahre ist das her. Karl machte damals ein Praktikum bei einer Tochter des Otto-Versands und sah sich die Arbeitsbedingungen bei Zulieferern an. Sechs Wochen war sie in Bangladesch unterwegs, auch um die Sache mit den Binden voran zu bringen. Die neuen Binden können die Arbeiterinnen für wenige Takkas, die bengalische Währung, beim Betriebsarzt kaufen. Das ist auch bei einem Mindestlohn von 20 Dollar im Monat drin.

Immerhin: Der Lohn ist inzwischen auf 38 Dollar geklettert. Und dennoch würden Näherinnen in Deutschland das 20- oder 30-fache verdienen. Europäische Verhältnisse sind weit weg, kein Wunder, dass niemand „Steffi“ oder „Madame Karl“ sagt: „Selbst meine Vorgesetzten in der Otto- Niederlassung nannten mich Madame Boss“, erzählt Karl. Und wenn sie morgens zur Besprechung auf dem Sofa saß, wagte es niemand, sich neben sie zu setzen.

Schon vor Jahrzehnten hat die Textilindustrie sich aus Europa zurückgezogen. Bangladesch ist nach China heute der zweitgrößte Textilexporteur der Welt. Die Kleidungsindustrie beschäftigt rund vier Millionen der 160 Millionen Einwohner, 90 Prozent sind Frauen. Und nicht erst seit dem Einsturz des achtstöckigen Hochhauses Rana Plaza in Savar, Bangladesch, steht die westliche Bekleidungsindustrie in der Kritik: 1.129 Menschen starben, als das mit Nähereien vollgestopfte Gebäude einstürzte.

112 Arbeiterinnnen gestorben

Die Katastrophe von Savar ist der größte Unfall in der Geschichte der Textilindustrie – und kein Einzelfall. Erst im November 2012 waren 112 Arbeiterinnnen gestorben als eine andere Fabrik in Bangladesch zusammenbrach, in der auch die Deutschen Textilverkäufer Kik, Rieker und ausgerechnet C&A produzieren: „Umwelt schonen“ und „Menschen fördern“, steht auf deren Internetseiten. Aktuelle Überschrift: „Wir nehmen unsere Verantwortung ernst.“

C&A hat Mindeststandards für seine Zulieferer festgelegt und lässt sie auch prüfen. Organisationen wie Fair Wear, bei der Karl jetzt arbeitet, prüfen vor Ort. Fair Wear kontrolliert die selbst gesteckten Sozialkriterien der 88 Mitgliedsunternehmen, auf der Liste stehen neben Vaude und Jack Wolfskin auch der Dritte-Welt-Shop der Welthungerhilfe.

Die Foundation gibt sich unabhängig, sie wird von Gewerkschaften, Nicht-Regierungsorganisationen und Unternehmensverbänden geführt. Die niederländische Stiftung hat Standards geschaffen, sie setzt sich gegen Zwangs- und Kinderarbeit, gegen Diskriminierung und überlange Arbeitszeiten ein. Außerdem soll sie Vereinigungsrecht, existenzsichernde Löhne und Arbeitsschutz fördern. Der Outdoor-Hersteller Vaude hat ein Video auf die Website gestellt, das die Arbeit von Fair Wear preist. Denn die Vaude-Kunden sollen die Produkte mit gutem Gewissen tragen.

Stefanie Karl ist bei Fair Wear zuständig für die Produktion in Indien. Das Faible für die Entwicklungshilfe hat sie vom Vater geerbt. Karl ist in Bangkok geboren und aufgewachsen, ihr Vater leitete dort Wasser-Hilfsprojekte. Als sie sieben war, zog die Familie nach Butzbach bei Gießen. Karl studierte die Ökonomie der Entwicklungsländer und arbeitete nebenbei bei Hess Natur; der Naturtextil- Versender ist ebenfalls Mitglied bei Fair Wear.

Mode ohne Weitblick II. Bild: dpa

„Als Jugendliche fand ich Butzbach total bescheuert“, sagt Karl. Doch sie blieb in der 25.000-Einwohner-Stadt und betreute nach dem Studium vier Jahre lang die Sozialstandards in Produktionsstätten von Hess Natur von Europa über die Türkei bis nach Thailand. Anfang 2012 wechselte sie von Hess zu Fair Wear und fliegt seitdem mehrmals im Jahr nach Indien.

Wenn sie jetzt mit ihrem Freund zuhause ist, denkt sie: „Gott sei Dank, Homeoffice in Butzbach!“ Sechs Jahre, nachdem sie zum ersten Mal „Madame Boss“ genannt wurde, ist sie inzwischen wirklich „the Boss“. In Indien, wo Fair Wear mit zwei Teams 159 Fabriken für 38 Mitgliedsunternehmen betreut, arbeiten ihr mehrere Mitarbeiter zu.

Sie machen die so genannten Audits: eine Kontrolle ohne juristische Konsequenzen. Denn die Teams schreiben lediglich Berichte über die Zustände in der Fabrik. Mitarbeiter ohne Arbeitsverträge oder nicht durchgeführte Trinkwasserkontrollen zeigen sie aber nicht bei den lokalen Behörden an. Doch die Berichte werden den Unternehmen vorgelegt und teilweise auf der Internetseite der Fair Wear Foundation veröffentlicht.

Fair Wear ist nicht frei von Pannen: Im November 2012 wurde bekannt, dass der Textildiscounter Takko einen Subunternehmer hatte, der Kleider in chinesischen Gefängnissen herstellen ließ. Da war Takko schon ein Jahr lang Mitglied bei Fair Wear. „Takko ist nicht perfekt, aber sie haben sich verpflichtet, besser zu werden“, sagt Karl.

Die Besuche sind angekündigt

Die Inspektion einer Fabrik dauert etwa anderthalb Tage. Die Fair Wear-Kontrolleure erkundigen sich bei lokalen NGOs, Behörden und Frauenrechtlern, ob die Fabrik schon negativ aufgefallen ist. „So werden viele Probleme vor der Begehung der Fabrik klar“, sagt Karl. Zudem beobachtet das Team die Firma von der Straße aus, um zu sehen, wie lange tatsächlich gearbeitet wird. Auch sprechen sie Arbeiter außerhalb der Fabrik an, dann sprechen sie freier als unter den Augen ihrer Chefs.

Karl prüft die Sicherheit der Arbeitsplätze und die Bücher der Firmen – auch die inoffiziellen, in denen auch Arbeiter auftauchen, die für weniger als den Mindestlohn arbeiten. Die Kontrolleure kennen beide. „Wir sind nicht die Polizei, da besteht eine Vertrauensbasis“, sagt Stefanie Karl, sonst würden die Firmen sie nicht so tief blicken lassen. Die Besuche sind angekündigt, die Kontrolleure dürfen sich nicht täuschen lassen.

Als in einem Betrieb ausnahmslos alle Arbeiter Mund- und Ohrenschutz trugen – der Mann in der beschaulichen Qualitätskontrolle inklusive – war klar, dass da etwas nicht stimmt. „Dann verabschiede ich mich, lasse aber meinen Schirm liegen.“ Als Karl zurückkehrte, um den Schirm zu holen, trug kein Arbeiter mehr den geforderten Schutz. „Die haben einfach nicht verstanden, um was es geht“, sagt die Kontrolleurin und klingt dabei resigniert. Irgendwann sei doch jeder für sich selbst verantwortlich.

Schnelle Erfolge gibt es kaum, die Idealistin ist pragmatischer geworden. „Die Kosten sind oft wichtiger als der Arbeitsschutz“, weiß sie und setzt trotzdem auf Wandel: Selbst wenn in dem Betrieb die Bedingungen elend sind und die Arbeiter schlecht behandelt werden, rät sie den Auftraggebern in Europa nicht dazu, dem Betrieb zu kündigen. Sondern zu versuchen, den Betrieb zu ändern.

Es sind kleine Erfolge wie die Seife auf der Toilette oder ein angebrachter Feuerlöscher. Die Binden für die Arbeiterinnen in Bangladesh waren kein Erfolg, weil durch die Hitze in den Schwämmen Infekte entstehen. Eines hat Stefanie Karl immerhin erreicht: Inzwischen setzen sich ihre Kolleginnen und Kollegen zu ihr auf das Sofa.

Svenja Bednarczyk, der Artikel ist erschienen in der Ausgabe zeo2 4/2013.

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