Kulturgut im Blumenkasten

Umweltschützer sorgen sich um aussterbende Kulturpflanzen. Mit einem Kompendium und Samentütchen wollen sie Grün-Fans zur Aussaat locken. Das funktioniert selbst auf der Fensterbank

VON NIKE WILHELMS

Hach, wie schön. Der Frühling naht. Und mit ihm die eigens dafür erfundenen Gefühle. Schon mal ein Rendezvous mit Caroletta, Balsamine oder dem Blauen Schweden gehabt? Nein? Schade. Wäre ein netter Flirt mit einer liebreizenden Tomatenart, einer Gartenblume und einer Kartoffelsorte gewesen. Auch wenn sie so unterschiedlich aussehen, haben sie viele Gemeinsamkeiten: alle drei sind selten, historisch wertvoll und selbst anbaubar.

Zackig ein Tütchen mit dem Saatgut der Kulturpflanzen angefordert, aussäen, warten, sich liebevoll sorgen, ernten und essen – oder sich einfach an der Blüte erfreuen. VERN, der Verein zur Erhaltung und Rekultivierung von Nutzpflanzen in Brandenburg, kümmert sich seit Mitte der 90er-Jahre um die pflanzengenetischen Ressourcen – Kulturpflanzen, die vom Aussterben bedroht sind.

Das hat seine Gründe, denn laut Untersuchung der UNO-Organisation FAO (Food Agriculture Organisation) sind seit 1900 weltweit 75 Prozent aller Kulturpflanzen ausgestorben. Lag das Saatgut und dessen Vielfaltssicherung Anfang des letzten Jahrhunderts im wahrsten Sinne noch in Frauenhand, kauft heutzutage Otto Normalsäher die Saat im Baumarkt. Ein Einheitsbrei, so Herbert Lohner, Vorsitzender des VERN.

Um dem entgegenzuwirken hat der Verein in Zusammenarbeit mit der Umweltschutzorganisation BUND einen botanischen Garten in der Uckermark angelegt, wo 2.000 Pflanzensorten vom Champagnerroggen bis zum Teltower Rübchen kultiviert werden. Dort gibt es natürlich auch eine „Samenbank“, in der die Saat akribisch gehortet und in die oben erwähnten Tütchen verpackt wird. Damit Interessierte wie Kleingartenvereine, Gastronomiebetriebe, Schulen oder Privatpersonen sich in der Fülle des Chlorophylls zurechtfinden, ist der kostenlose Saatgutkatalog „Compendium 2004“ erschienen, in dem rund 400 Sorten beschrieben werden.

Das leicht paradox klingende Motto „Erhalten durch Essen“ sagt alles: Wer einmal in den Genuss eines dieser seltenen Gewächse gekommen ist, würde am liebsten nur noch selbst anbauen. Das gute Gewissen, etwas für dem Erhalt der Pflanzenvielfalt getan zu haben, hilft beim Verdauungsschlaf. Entschuldigungen wie „Hab’ keinen Garten“ oder „Ich wohn’ Platte ohne Balkon“ zählen nicht. Die Kultivierung funktioniert auch auf der Fensterbank – es sein denn, der Sinn steht einem nach einem üppigen Weizenfeld. Und seien wir aufrichtig: Der Frühling kann auch zum Um- und nicht nur zum Angraben genutzt werden.