Gleichzeitigkeiten

Oliver Axer wird 1962 in Hamburg geboren. Er hat einen jüngeren Bruder. Wiederholte Umzüge, bedingt durch das berufliche Fortkommen des Vaters, erschweren Bindungen und Verwurzelung.

Im Alter von zehn Jahren entdeckt Axer alte Revuefilme aus den Dreißigerjahren, die er hingebungsvoll verfolgt. In dem Maße wie ihn die Atmosphäre dieser Zeit und ihre alltagskulturellen Hervorbringungen in ihren Bann ziehen, befremdet ihn der eigene Alltag der 1970er-Jahre. Als Schock erlebt Axer den Geschichtsunterricht in der Schule und die Fernsehsendung „Vor vierzig Jahren“, die den jugendlichen Eskapisten mit der „hässlichen“ Seite der geliebten „Deutschen Moderne“ konfrontieren.

Axer lernt die Produktbezeichnung „Drittes Reich“ kennen. Mit den schmerzhaften Fragen nach der Möglichkeit der Gleichzeitigkeit des Schönen und Schrecklichen, nach der Spannung von Inhalt und Form, von Zeitgenossenschaft und Erkenntnis, beginnt sich ein Lebensthema abzuzeichnen.

Ende der Achtzigerjahre schreibt sich Axer an der Hochschule der Künste Berlin ein und studiert Industrielle Formgestaltung. Als Diplom-Designer macht Axer ernüchternde Erfahrungen mit Entwerfen und Vermarktung eigenen Möbeldesigns. Er wechselt das Metier und widmet sich dem Designhandel – mit Erfolg. Sein Schwerpunkt werden Bauhaus-Möbel und Objekte der 1920er-, 1930er- und 1940er-Jahre. Rare Schmuckstücke, die er in privaten Nachlässen aufspürt und in Form bringt. Bald kann er weltweit verkaufen, darunter an das Bauhausarchiv, Berlin.

Axers ästhetische Affinität zum Bauhaus bleibt nicht ohne Kritik: „Hochideologisch und wahnsinnig unbequem“. Durch den programmatischen Avantgardismus verfehle es letztlich die Bedürfnisse des „Neuen Menschen“ von nebenan, zu dessen Befreiung es angetreten war. Deutsches Design dieser Zeit jenseits der Avantgarde findet, so Axer, hier vielfach zu einer umweltverträglicheren Modernität. Beispielhaft zeige dies etwa der Uhrenhersteller Kienzle. Zurückgenommene Eleganz der Linienführung paart sich mit einer Qualität, die nur noch durch die „fast erschreckende Solidität“ der Schweizer übertroffen wird.

Anfang der 1990er-Jahre gründet Axer in Berlin sein CD-Label „Deutsche Moderne“ für Tanz- und Unterhaltungsmusik der 1930er- und 1940er-Jahre. Mit Susanne Benze als Mitautorin entwickelt Axer die Idee zu einem Film. Über originale Bild- und Ton-Dokumente der Unterhaltungskultur des Dritten Reichs soll die Parallelexistenz gegensätzlicher Welten vergegenwärtigt werden. Bedingt durch den Ausbruch einer lebensgefährlichen Krebserkrankung muss das Projekt jahrelang ruhen und wird zehn Jahre später als geplant fertig gestellt. Die Zwangspause wird für Axer und Benze zu einem Glücksfall. arte und das ZDF interessieren sich für das Kunstwerk. Mit dem Titel „Hitlers Hitparade“ wird der Film im August 2004 von arte ausgestrahlt. Im März 2005 gewinnen Axer und Benze in der Rubrik „Information und Kultur“ dafür den Grimme Preis.

Nach der Zukunft und einem Traum-Projekt befragt, entwirft Axer die Vision eines noch zu gründenden Museums „Deutsche Moderne“, sich selbst als dessen Direktor. Darin solle die gesamte Designkultur der 1920er- bis 1940er-Jahre präsentiert werden, abgerundet durch „Party“-Veranstaltungen mit Modenschau, Musik, Tanz und Bewirtung im Stil der jeweiligen Zeit. NIKE BREYER