Weit gereiste Musik

Mit dem Akkordeon Brücken bauen, auch in kriegerischen Zeiten: Das ist den Musikern der Konzertreihe Pantonale wichtig

Der spanische Komponist Gorka Hermosa kommt zur Pantonale Foto: Christoph Soeder

Von Robert Mießner

„Ich kann nicht alle Menschen zu Freunden machen“, sagt Waldemar Fleischhauer im Telefonat mit der taz. Er spricht schnell. Der Endsechziger hat viel zu erzählen. Er fügt an: „Aber ich kann in der Musik Menschen dazu bringen, einander zuzuhören. Das ist ein Anfang.“ Seit 2014 veranstaltet Fleischhauer mit seinem Verein Pantonale e. V. in Berlin ein internationales Akkordeonfestival. Diesen Freitag findet im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie die zehnte Ausgabe statt. Unter der Leitung des Dirigenten Miran Vaupotić treten Musiker aus der Ukraine, aus Russland, aus der Republik Moldau, aus Spanien, Israel, Kroatien, Serbien, Bosnien und Herzegowina sowie aus Deutschland auf unter dem Motto „Friedenstraum“. Der Titel sollte dieser Tage keiner Erklärung bedürfen; dass er bereits 2023 ähnlich lautete, darf ruhig betont werden.

Waldemar Fleischhauer, Akkordeonlehrer an der Musikschule Berlin-Zehlendorf und Bergarbeitersohn, stammt aus der Stadt Ugleuralsk in der russischen Region Perm im äußersten Osten Europas. Fleischhauer, Jahrgang 1955, ist im Schatten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgewachsen, des „schlimmsten, das es jemals gegeben hat“, wie es der russisch-britische Philosoph Isaiah Berlin formulierte. Im Schatten heißt, dass Fleischhauer als Kind das Erlebnis des Zweiten Weltkriegs erspart blieb, seine Familie aber davon durch und durch geprägt war.

In einem anderthalbstündigen Interview mit dem Filmemacher und Dokumentaristen Thomas Grimm erzählt Fleischhauer davon. Die Aufzeichnung findet sich auf Youtube. Sie gibt eine Ahnung von den Absurditäten des sowjetischen Lebens ab. „Abenteuer ohne Grenze“, sagt Fleischhauer über sein Leben. Im Gespräch mit Grimm erscheint es mal als Schelmenroman, mal als Tragikomödie. Die Arroganz der Macht ist schlimm, sie wird nicht besser, wenn die Anmaßung sich in den Mantel hehrer Ideale wirft.

Fleischhauers Eltern waren Wolgadeutsche, die Mutter kam aus der von 1924 bis 1941 bestehenden Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen, der Vater aus Sibirien. Deutsche, auch wenn sie eine jahrhundertelange Geschichte hatten, waren in der Sowjetunion ab dem Zweiten Weltkrieg Anfeindungen, Repressalien und Deportation ausgesetzt. Wenn Grimm zu Fleischhauer sagt, sie seien doch Sowjetbürger gewesen, liegt in dieser Bemerkung die Tragik der Geschichte.

Waldemar Fleischhauers Eltern können kurz nach dem Mauerfall nach Deutschland und nach einigem Hin und Her bleiben. Dem Sohn, seiner Frau und den beiden Kindern gelingt das, wenn auch nicht ohne Mühen, 1992. Die Fleischhauers wollten ihren Söhnen den Dienst in der russischen Armee ersparen.

Brücken nach Deutschland

Für Fleischhauers Vater waren die Tasten des Akkordeons Brücken nach Deutschland, erinnert sich der Sohn. Das Akkordeon verdient übrigens nähere Betrachtung. Unlängst hat der Literaturwissenschaftler Magnus Klaue in der Jungle World eine ausführliche Ehrenrettung der Ziehharmonika vorgenommen und auf das Spannungsfeld des Instruments zwischen unterhaltender und autonomer Kunst hingewiesen. Klaue weist darauf hin, wie in der frühen Bundesrepublik „besonders das Akkordeon als Reminiszenz an die französische Unterhaltungskultur zum Emblem einer anarchischen Popularität, die dem deutschen Begriff von Volkskunst eher entgegenstand“, wurde. Illustriert ist der Text mit einem Foto der Akkordeon spielenden Marlene Dietrich aus Billy Wilders Film „Zeugin der Anklage“.

Die Schatten des Zweiten Welt­kriegs prägten sein Leben

Es empfiehlt sich, am Beispiel des Akkordeons zwischen Folk und Volkstümelei zu unterscheiden. Fleischhauers Festival bietet dafür mehr als eine Gelegenheit. Der spanische Komponist Gorka Hermosa tut das in seiner Komposition „Peace Dream“, deren erster Satz bereits für das Pantonale-Friedensfestival 2023 komponiert und in der Berliner Philharmonie uraufgeführt wurde. In diesem Jahr wird der zweite und dritte Satz zu hören sein. Hermosas Komposition basiert auf dem ukrainischen Volkslied „Wesnjanka“ und dem russischen „Utuschka Lugowaja“ und verschränkt sie miteinander.

Als Waldemar Fleischhauerund seine Familie nach Deutschland kamen, war in Osteuropa Krieg. Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion standen sich im Kaukasus bereits seit den späten achtziger Jahren Armenien und Aserbaidschan gegenüber, in Moldawien und Tadschikistan brachen Bürgerkriege aus. Auf die blutige Zerstückelung Jugoslawiens, im Kalten Krieg ein Land zwischen Ost und West, nimmt die Suite „Boško and Admira“ des polnischen Komponisten Mikolaj Majkusiak Bezug. Die Bosnjakin Admira Ismić und der Serbe Boško Brkić wurden nach ihrer Ermordung 1993 als „Sarajevos Romeo und Julia“ bekannt. Vorgetragen wird das Werk von dem bosnisch-serbischen Duo Dragana Gajić (Viola) und Marko Ševarlić (Akkordeon).

Von dem russischen Komponisten Vladimir Genin wird das „Konzert für Streichorchester und Akkordeon“ zu hören sein, von dem ukrainisch-israelischen Komponisten Artem Nizhnik das „Kleine Tryptichon“. Den Abschluss bilden Jazzkompositionen von Arkady Shilkloper und Eduard Akhanov. Zu Akkordeon und Orchester kommen als besondere Überraschung Alphorn und Horn. Wenn das Waldemar Fleischhauers alte Vorgesetzte wüssten: Das Horn war das Instrument, das ihm als Erstes in der Armee zugewiesen wurde.

„Pantonale“: Gala-Konzert, 24. Mai, 17 Uhr, Kammermusiksaal der Philharmonie