Buch über die Kritische Theorie: Eine packende Geschichte

Der Historiker Philipp Lenhard hat eine Geschichte über die Frankfurter Schule vorgelegt. Das Netzwerk prägte die Theoriegeschichte wie kein anderes.

Als Adorno die Polizei gerufen hatte: Institut für Sozialforschung in Frankfurt, Januar 1969 Foto: Max Scheler/SZ Photo/picture alliance

Um das Frankfurter Institut für Sozialforschung (IfS) kreisen manch allzu bekannte Geschichten um die häufig immer gleichen Personen. Zumeist wiederholen diese Erzählungen, die mit der Forschungseinrichtung an der Frankfurter Senckenberganlage verbunden sind, die Namen weniger. Diese überdecken dabei die Geschichte der Kontingenzen, Unwägbarkeiten und Unwahrscheinlichkeiten des IfS.

Diese bekannten Versatzstücke, die sich besonders um die ehemaligen Direktoren Max Horkheimer und Theodor W. Adorno drehen, unterbricht Philipp Lenhards Auseinandersetzung mit der Historie des Hauses und den Personen, die dessen Geschichte schrieben, in seinem monumentalen Buch „Café Marx“.

Philipp Lenhard, Historiker an der University of California in Berkeley, verfolgt von 1924 bis 1974 die Geschichte eines Ort- und Zeitgeschehens, das größten Widerständen zum Trotz seinen Platz in der Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts einnahm und dabei immer Produkt „lebendigen Austauschs und Konflikts“ war.

Dabei verfolgt er vier Erzählstränge: erstens die Geschichte des Hauses oder genauer der Häuser als Gebäude und Orte, zweitens das IfS als Treffpunkt unterschiedlichster Beziehungsgeflechte, drittens den Stellenwert in der Forschungslandschaft und die Geschichte einer „sich über die Zeit seines Bestehens permanent verändernden Idee“, die mit den Insignien Kritische Theo­rie, Frankfurter Schule, Grand Hotel Abgrund oder Café Marx zu fassen versucht wird.

Spione, Exil, Patriarchat

Es ist eine packende Geschichte, die Lenhard dabei erzählt, von kriegsmüden Jugendlichen und heimlichen Verstrickungen mit der Komintern. Ebenso vom versteckten Marxismus von ein paar Freunden, die ihr eigentliches Anliegen einer Forschungseinrichtung, die nicht nur der Erforschung der Revolution, sondern auch ihr selbst dienen sollte, hinter „äsopischer Sprache“ verdeckt hielten, bis der Plan des IfS endlich eingefädelt und durchgesetzt sein sollte.

Es geht um Hausdurchsuchungen, Spione, Exil, patriarchale Ordnung des IfS und Mitarbeiterinnen, ausweglose Situationen und Verluste, Schicksalsschläge und Neubeginne.

Lenhard beginnt seine Studie mit einer literarischen Szene, wie sie jedem Kapitel vorangestellt wird: Im Herbst 1915, zeitgleich zu den ergebnislosen und doch opferreichen Schlachten in La Bassée und Arras, herrscht in einer neoklassizistischen Villa in der Frankfurter Zeppelinallee 77 Hektik. Anders als im sonstigen Salonalltag des gutbürgerlichen Milieus wurden die Räume umfunktioniert, statt dem Flügel stehen Feldbetten im Musikzimmer, ein notdürftig eingerichtetes Lazarett.

Herman Weil, Familienoberhaupt und steiler sozialer Aufsteiger – vom „einfachen Sohn eines Landjuden“ hin zum „weltweit bedeutendsten Getreidehändler seiner Zeit“ –, hat den Sitz der Familie für Kriegsverletzte geöffnet. Inmitten all dieses Treibens steht der Sohn Felix Weil, der, finanziell unterstützt vom Vater und getrieben von einem unbändigen Willen, wenige Jahre später zusammen mit Freunden das IfS ins Leben rufen wird.

Der junge Felix Weil

Anstatt der Geschichte des reichen Mäzens und des wohlhabenden Erben, welche häufig angeführt wird in der Geschichte des IfS, zeigt Lenhard die Entwicklung des jugendlichen Felix Weil, der dem Krieg widerstrebend gegenüberstand und der mit seinem Schulfreund Leo Löwenthal nach einem Sinn in der Welt suchte. Wie dieser zum jungen Marxisten, der sich mit Genossen der Sache der Revolution zum Ende des Ersten Weltkriegs immer weiter annahm, und schließlich zu dem erwachsenen Organisator wurde, der mit großem Geschick und viel Glück das IfS ermöglichen sollte.

Teil dieser Geschichte sind zahlreiche Namen, die untereinander auch widersprüchliche Vorstellungen eines sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts hatten, die Lenhard detailgetreu nachverfolgt.

Die unterschiedlichen Ideen eines Instituts formen zusammen 1923 den Startschuss für den Bau und ab 1924 das erste Gebäude, das von außen wie eine Festung (Siegfried Kracauer) wirkte. Herz dieses Gebäudes bildete das Archiv und die Bibliothek, geführt unter der „Diktatur des Direktors“ Grünberg.

Der Lektüre folgend zeichnet sich das Geschehen des ersten Gebäudes mit einem Außenarchiv in Berlin ab, das von polizeilichen Hausdurchsuchungen betroffen war, über die Räumung, die Verlagerung des IfS nach Genf und New York in den Jahren des Exils und schließlich der Wiedereinrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg im noch heutigen Frankfurter Neubau.

Eine Geschichte von Freundschaften

Wenn das Archiv und die Bibliothek das Herz des ersten Institutsgebäudes waren, waren es die Mitarbeiterinnen, die dieses Herz zum Schlagen brachten. Hier wird sowohl deutlich, wie weit das Umfeld des IfS schon in den ersten Jahren reichte und wie divers die Mitarbeitenden aufgestellt waren.

Auch wird die „patriarchal geführte Forschungsanstalt“ beleuchtet, in der beispielsweise den kompetenten und ausgebildeten Mitarbeiterinnen des Archivs und der Bibliothek unbedingt ein Mann als Leiter vorgesetzt werden musste.

Lenhards Studie könnten in diesem Aspekt auch andere Geschichten hinzugefügt werden, wie die der freundschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Gertrude Irsch, die maßgeblich die Unternehmungen im ersten Exil in Genf betreute, und Max Horkheimer, wie sie in den Briefen zu finden ist.

Das IfS war immer auch, und das wird in „Café Marx“ sehr deutlich, eine Geschichte von Freundschaften, die in der Zusammenarbeit das Verständnis von der Welt und damit die Welt selbst ändern wollten. Über die 600 Seiten lässt sich nachvollziehen, wie sich mit den Forschungslandschaften und historischen Entwicklungen auch die Fragen des IfS veränderten.

Scheitern der Emanzipation

War es zu Beginn das Ausbleiben der Revolution, wurde es zu Zeiten des Exils die Frage des Rückfalls in die Barbarei und nach dem Zweiten Weltkrieg die Möglichkeit der Selbstverteidigung des Individuums gegenüber der verwalteten Welt.

Dabei zeichnete stets eine Negativität das IfS aus, die Lenhard „als Reaktion auf das Scheitern der Emanzipation“ fasst; eine Negativität, die stets begleitet war von der Hoffnung auf ein mögliches Anderes, wie Horkheimer einst an Gertrude Irsch schrieb: „Die Menschen müssen das Gute machen, das Schlechte kommt von selbst.“

„Café Marx“ ist eine umfassende historische Studie, durchsetzt mit literarischen Sequenzen, mit denen Lenhard ein Gefühl für die Zeit evozieren kann und so wissenschaftliches und literarisches Schreiben verbindet. Mit seiner Studie zeigt er, wie die Riesen, auf deren Schultern die Mitarbeitenden des IfS heute sitzen, zu diesen Riesen wurden, wer sie umgab, mit wem sie arbeiteten, harmonierten und stritten, und wer ihnen ihr Denkmal erbaut hat.

So schafft Philipp Lenhard in „Café Marx“ den Spagat, eine Einführung für Interessierte und eine Vertiefung für Sachverständige zu vereinen, und dabei erfahrungsgesättigt literarisch wie wissenschaftlich die Zeitachse von Kritischer Theorie bis zur Frankfurter Schule nachzuzeichnen.

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