Ein bisschen verrückt

Sepp Kuss darf dann doch die Spanien-Rundfahrt gewinnen. Seine größten Gegner sind eigentlich seine Chefs im Team. Am Ende fahren sie für ihn

Team Jumo-Visma mit Vuelta-Sieger Sepp Kuss, Tour-Triumphator Vingegaard und Giro-Gewinner Roglič Foto: imago

Aus Madrid Tom Mustroph

Der niederländische Rennstall Jumbo-Visma hat Großes vollbracht: Alle drei Grand Tours des Jahres gewonnen, dazu mehr als eine Handvoll Eintagesrennen und in Madrid am Ende der Vuelta auch noch das Podium komplett besetzt. Nur bei den Klassikern kam die Konkurrenz etwas besser zum Zuge. Es war ein Wunder mit Ansage.

Sepp Kuss schüttelt den Kopf, wenn er sich an den Saisonbeginn erinnert. „Wir saßen da zusammen und haben uns vorgenommen, alle drei Grand Tours zu gewinnen. Ich fand das schon ein bisschen verrückt und auch überzogen“, sagte er während dieser Vuelta. Nun ist genau dies eingetreten, mit ihm in einer Hauptrolle. Seit der 8. Etappe führte er die Vuelta an. Er überstand Berge wie den gefürchteten Tourmalet und auch den wohl brutalsten Radsportberg, den Angliru. In größere Gefahr geriet er dabei nur durch Angriffe von zwei Männern, für die er sonst die Kastanien aus dem Feuer holt.

Am Tourmalet fuhr ihm Jonas Vingegaard davon, dem er zuvor mit unendlicher Hingabe in den Bergen zwei Tour-de-France-Siege ermöglichte. Am Angliru gab PrimožRogličFersengeld. Bei dessen drei Vuelta-Siegen und auch dem Giro-Triumph des Slowenen im Frühjahr war Kuss ebenfalls ein extrem wertvoller Helfer. All diese Hilfe zählte bei der Raubtiermentalität, die sich bei Extremsportlern oft ausprägt, aber herzlich wenig. Rogličwollte schließlich gern seinen vierten Vuelta-Sieg holen und sich in eine gute Verhandlungsposition im Winter bringen, wenn es darum geht, wer mit welcher Rolle zur nächsten Tour de France gelassen wird. Die Tourkrone fehlt ihm noch in der Trophäensammlung. „Ich bin der Erste, der sich für Sepp freuen würde, wenn er das rote Trikot bis nach Madrid bringt. Ich habe aber auch die Verantwortung, hier mein Bestes zu zeigen“, lautete die salomonische Formel dazu. Vingegaard schließlich war nach seinem Toursieg nicht zur Vuelta gekommen, um ein paar Promi-Runden zu drehen. Nein, er wollte die Spanienrundfahrt natürlich auch gewinnen. Am liebsten im Doppelpack, mit ihm als Sieger und Rogličauf Platz 2.

Daher war – erst recht nach dem Ausfall von Titelverteidiger Remco Evenepoel, der am Tourmalet 27 Minuten verlor – die spannendste Frage dieser Vuelta, wie Jumbo-Visma das freie Spiel der Egoismen gestalten würde. Heraus kam zunächst die bedingte Freibriefformel. „Wir alle drei haben die Freiheit vom Team bekommen, um den Sieg zu fahren. Der Fokus bleibt aber darauf, dass wir als Team die Rundfahrt gewinnen“, erklärte Vingegaard. Das hieß: Antreten ja, auch durchziehen, wenn die eigenen Teamkollegen nicht mitkommen. Aber auf keinen Fall Angriffe der Teamkollegen kontern oder gar Rivalen anderer Teams mit heranführen.

Jenseits des Jumbo-Universums wurden die jeweils mit Etappensiegen gekrönten Aktionen von Rogličund Vingegaard aber als Undankbarkeit der Stars gegenüber dem bisherigen Edelhelfer Kuss gewertet. Diese Kritik unterschlug allerdings, dass die Vuelta wohl furchtbar langweilig geworden wäre, hätte Jumbo die letzten acht Etappen im geschlossenen Block absolviert. Für die Spannung war das freie Spiel schon gut.

Die Kritik zeigte dennoch Wirkung. Vor allem aber exponierte sich der gewöhnlich sehr duldsame und auf­opferungsbereite Kuss plötzlich. „Ja, ich habe mich bei dieser Vuelta verändert, habe viel mehr Selbstvertrauen gewonnen“, sagte der US-Amerikaner der taz. Und so machte er in den Teammeetings, vor allem in dem nach der Angliru-Etappe, als Rogličund Vingegaard ihn regelrecht stehen ließen, seinen Standpunkt geltend. Und der lautet, dass er sich den Gesamtsieg durchaus verdient hat.

Seitdem agierten Rogličund Vingegaard demonstrativ als Helfer für den früheren Edelhelfer. Am Samstag gab es dann die Belohnung. Arm in Arm fuhr das Trio über den Zielstrich, Kuss in der Mitte, wie es sich für einen Sieger gehört.