Suchende Bewegungen

Sehnsucht nach Zugehörigkeit – und der Wunsch, reflexive Distanz zu halten: Um die Zerissenheit wohl nicht nur afghanischer Geflüchteter geht es in der Ausstellung „Kindheit(en)“ in Delmenhorst

Mutterstolz in Pixel aufgelöst: Wie ihre Mutter sie einst als Neugeborene hochhielt, hat Moshtari Hilal in einen Teppich einweben lassen Foto: Jens Weyers

Von Jens Fischer

„Hier, wo zu Hause ist, bin ich fremd“, sagt die junge Frau, „wie im Wartezimmer.“ In wunderbar kadrierten, stimmungsdicht-surrealen Schwarz-Weiß-Bildern bringt der Kurzfilm „The myth oft he present“ von Parwana Haydar (Drehbuch/Regie) und Zamarin Wahdat (Kamera) das Thema auf den Punkt: Von der Zerrissenheit bi- oder interkulturell sozialisierter Kinder erzählt die Ausstellung „Kindheit(en). Von Erinnerungen in der Kunst“, zu sehen im Haus Coburg, der Delmenhorster Städtischen Galerie. Als Künstlerinnen suchen die Kinder afghanischer Geflüchtetenfamilien in der westeuropäischen Diaspora nach den biografischen Gründen des fragilen Gefühls für das Eigene.

Kuratiert hat die Ausstellung die in Kabul geborene Hamburger Islam- und Politikwissenschaftlerin Moshtari Hilal, selbst eine vornehmlich im Internet ausstellende Autodidaktin im analogen und figurativen Zeichnen. Eingeladen hat sie sieben Kolleginnen ihres Netzwerks „Afghan Visual Arts and History“ (AVAH), deren Kunst sich durchweg aus autobiografischer Recherche entwickelt. Hilal selbst schöpft aus ihrem Archiv von Familienfotos, Videokassetten, mit Geschichten aufgeladenen Gegenständen, Erinnerungsfragmenten und Erzählungen Dritter. Bereits im Treppenhaus begrüßt sie die Be­su­che­r:in­nen mit einem Porträt: Ganz eng ins Format gequetscht sind Vater und Mutter, während die Künstlerin als bezopftes Mädchen und ein weiteres Kind ihren Platz im Bild noch suchen.

Charakteristisch, mit welcher grafischen Präzision Hilal die großen Augen blickintensiv inszeniert, mit schwarzem Stift schwarzhaarige Körper zeichnet. Betont werden dabei Damenbart, üppige Augenbrauen, krisselige Haarstruktur, dichte Körperbehaarung und große Nasen – als das Andere, das von der Mehrheitsgesellschaft nicht als schön empfunden wird und daher ausgrenzend wirkt. Für Hilal ist es eine wichtige Ressource ihrer künstlerischen Praxis; damit setzt sie sich auch essayistisch in ihrem demnächst erscheinenden Buch „Hässlichkeit“ auseinander.

In der Ausstellung ergänzen sich die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und der Wunsch nach reflexiver Distanz. So hat Hilal einige wackelig unscharfe, extrem grobkörnige Heimvideos aus den späten 1990er-Jahren digital in einen altmodischen Technicolor-Rausch hochgepusht, wohl um die Fremdheit und Notwendigkeit einer Neukontextualisierung zu betonen. Zu sehen sind Großfamilienfeste, Impressionen von Afghanistan-Besuchen und die Feier des 2. Geburtstags der Künstlerin. Ein Junge hantiert mit einem Gewehr. Kinder spielen die Flucht nach Deutschland in traditioneller Kleidung nach – die damals bloß niemand trug, weil sie viel zu auffällig und unpraktisch gewesen wäre.

Der aktuelle politisch-gesellschaftliche Backlash in Afghanistan steht in der eher privaten Ausstellung nicht im Fokus

Fragwürdig ist bei diesem Rückblickgeflimmer, ob es Erinnerungen wachruft, erhellt, ausformuliert oder verformt und umwertet – oder vielmehr selbst welche produziert. Ein Bild daraus – die Mutter hält stolz ihre Neugeborene in die Höhe – hat Moshtari Hilal in pixeligster Anmutung in einen Teppich einweben lassen, an dem schwarze Fäden wie geflochtene Haare hängen; so schließt sich der Motivkreis zu den Zeichnungen. Sie bat auch ihre Schwester Zuhra Hilal um eine Arbeit. Die Textildesignerin füllt nun mit der schwebend leichten Installation „Schnee & Spitze“ einen Raum, den eine leichte Kardamom-Note erfüllt. 27 an der Decke baumelnde Stoffarbeiten beschwören Erinnerungen an die kürzlich verstorbene Mutter. Sehr persönlich ist das, für Besucher schwer nachvollziehbar. Sicher fällt jedem zu den schnurgerade herabhängenden Nylonfäden oder einem Schwarm glitzernder Würmer irgendetwas ein, aber nur bei Führungen ist zu erfahren, dass die Künstlerin damit auf Mutters zum Trocknen aufgehängte Spaghetti und ihre Perlenohrringe anspielt. Puffärmel verweisen auf die Mode der 1990er-Jahre, in denen die Hilal-Schwestern aufwuchsen. Mit Spitzensaum umrankter Stoff deutet auf die Kopftuchkultur, tülliger Paillettenschmuck auf die zu Geburtstagen oder Hochzeiten getragenen Blumenkränze in Afghanistan hin.

Die Eltern interviewt – und das Gesagte in Betonquader gegossen und geritzt: Als einzige Arbeit tippen Farila Neshats „Seelenhäuser“ die große Politik, die Gründe für das Fliehen, zumindest an Foto: Jens Weyers

Unvertraut ist auch Installationskünstlerin Jeanno Gaussis Familiengeschichte, geradezu ein Symbol dafür sind 30 von den Eltern geerbte Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Die Porträtierten sind der Künstlerin unbekannt. Um aus der Ratlosigkeit eine Suchbewegung zu machen, beauftragte sie den Kabuler Werbeplakate-Maler Ustad Amin Sharif, die Fotos als „Familiengeschichten“ (2011–2012) interpretierend in Ölgemälde zu übersetzen. Die ins Leere stierenden Figuren bannte er in einem etwas plump naiven Stil mit kräftig leuchtenden Farben auf die Leinwand. Was für Menschen das gewesen sein könnten, dazu äußert der Maler anhand von Kleidung, Gesichtsausdruck, Haltung, Frisur etc. einige nachhörbare Vermutungen. Diese bereits 2012 bei der „Documenta 13“ gezeigten Arbeiten verweisen nun in Delmenhorst auf Erinnerung als Spurensuche im Möglichkeitsraum.

Konzeptkünstlerin Farila Neshat hat ihre Eltern interviewt – und die Äußerungen eingebunkert: Beton zu Quadern mit Treppen und winzigen Fensterchen gegossen und in Farsi Zitate hineingeritzt. Laut dem ausliegenden Begleittext ist dort etwas zu lesen über das einfache Leben in Afghanistan, Kinder züchtigenden Religionsunterricht, Hunger, Terror, Inhaftierung, Glücksgefühle generierende Schulbesuche und, natürlich, die Flucht. Damit sind Neshats „Seelenhäuser“ die einzigen Arbeiten, welche die einstige politische sowie soziale Situation Afghanistans zumindest antippen. Der aktuelle politische, gesellschaftliche Backlash steht in dieser eher privaten Ausstellung nicht im Fokus: Sie präsentiert Ab- und Bebilderungen sowie Rekonstruktionen und fantasievolle Übermalungen der Vergangenheit – mit dem Ergebnis einer hoffnungsdiffus-fluiden Atmosphäre: fremd sein, wo man zu Hause ist, „wie im Wartezimmer“ eben.

Bis 10. 9., Haus Coburg – Städtische Galerie Delmenhorst. Begleit­programm: https://hauscoburg.de