Maximale Förderung in der Villa Minimo

Seit den 1980ern fördert der Kunstverein Hannover systematisch den professionellen künstlerischen Nachwuchs mit drei Atelierstipendien in der Villa Minimo. Im Kunstverein präsentieren sich nun die drei kommenden Sti­pen­dia­ten:­in­nen

Soll antikapitalistisch aufgeladen wirken: Installationsansicht von Sven-Julien Kanclerskis Skulptur „Skywalker“ Foto: Mathias Völzke

Von Bettina Maria Brosowsky

Für die Förderung von Künst­le­r:in­nen gibt es in Niedersachsen unterschiedliche Modelle. Während etwa der Kunstverein Wolfsburg seit 2006 alle zwei Jahre seinen Kunstpreis Arti unter ortsansässigen Profi- wie auch Laien-Künstler:innen auslobt, widmet sich der Kunstverein Hannover bereits seit 1983 der systematischen Förderung des professionellen Nachwuchses.

Dafür hält er drei verschiedene, zeitversetzte Atelierstipendien vor – zugegebenermaßen ein wenig schwierig, dabei den Überblick zu behalten. Alle drei Formate bedeuten einen Arbeitsaufenthalt in der Villa Minimo in Hannover-List, im Lebensunterhalt sowie mit Projektmitteln bezuschusst, über ein Jahr oder zwei Jahre, aus Niedersachsen sowie Bremen oder national rekrutiert. Der Name des Hauses ist eine ganz bewusste Anspielung auf das ungleich illustre Residenzstipendium der Villa Massimo in Rom, seit gut hundert Jahren „die bedeutendste Einrichtung zur Spitzenförderung deutscher Künstler“ durch die Bundesrepublik, so die Selbstauskunft.

Im Mai wurden aus 200 Bewerbungen – so vielen wie nie zuvor – durch eine Auswahljury die drei kommenden Sti­pen­dia­t:in­nen für Hannover ermittelt. Ole Blank tritt zum Januar 2023 den zweijährigen Förderaufenthalt an, der sich an Künst­le­r:in­nen bis zum Alter von 35 Jahren richtet. Blank, Absolvent der Hochschule für bildende Künste in Braunschweig, arbeitet multimedial und engagiert sich in hannoverschen Kunstprojekten. Ebenfalls zu dem Zeitpunkt beginnt das einjährige Nachwuchsstipendium für Tuğba Şimşek. Auch sie ist Absolventin aus Braunschweig und fällt unter die Kategorie „freischaffende Künst­le­r:in mit maximal drei Jahre zurückliegendem Hochschulabschluss“. Şimşek zeichnet: mit Kreide auf Wänden, mit Kohle auf verschiedenem Papier. Ihren Arbeitsplatz übernimmt zum Januar 2024 dann die Kandidatin des nationalen Nachwuchsstipendiums, die Hessin Catharina Szonn. Die Absolventin der Hochschule für Gestaltung in Offenbach entwickelt, unter Zuhilfenahme elektronischer Medien und Texte, raumgreifende und ortsspezifische Installationen. Planmäßig 2025 wird es im Kunstverein dann eine gemeinsame Ausstellung des in Hannover Erarbeiteten geben.

Der Name des Hauses in Hannover-List, Villa Minimo, ist eine ganz bewusste Anspielung auf das ungleich illustrere Residenzstipendium der Villa Massimo in Rom

Aktuell zeigt der Kunstverein das Schaffen des letzten Stipendiendurchgangs ab Januar 2019. Den zweijährigen Aufenthalt begann damals Till Wittwer. 1985 in Stuttgart geboren, hat er unter anderen an der Universität der Künste in Berlin studiert, dort als Meisterschüler bei Hito Steyerl abgeschlossen. Er untersucht in performativ-installativen Arbeiten die Konstruktion dessen, was wir als „wirklich“ bezeichnen. Aber geht es dabei immer mit rechten, etwa wissenschaftlichen Dingen zu? Oder ist nicht jede Wirklichkeit zumindest durchsetzt mit fiktiven Anteilen? Dazu lancierte Wittwer ab 2020 seine sechsteilige Gesprächsreihe „Fabrikanten der Wirklichkeit“, beispielsweise über „Balduin“. Dieses lebensgroße Modell eines Iguanodon-Dinosauriers aus den 1960er-Jahren verblieb trotz seiner evidenten paläontologischen Fehlinterpretation bis 2013 als Exponat im Landesmuseum Hannover.

Wittwer durfte es nun zerlegen, Einzelteile ziehen sich durch seine Gesamtinstallation im Kunstverein, die auch den Phantasmagorien der gescheiterten „TET-Stadt“ des Hannoverschen Keksfabrikanten Hermann Bahlsen nachgeht. In den ausgehenden 1910er-Jahren gemeinsam mit dem Bildhauer Bernhard Hoetger konzipiert, setzte diese Idealstadt neben einer paternalistischen Daseinsvorsorge auch auf die absolutistische Totalkontrolle eines industriellen Arbeitgebers.

Im Jahr 2020 durchlief Luise Marchand das einjährige Stipendium für den Nachwuchs nationaler Provenienz. Die 1987 in Blankenburg am Harz Geborene ist Absolventin der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. In ihren Fotocollagen beschäftigt sie sich in mit den Techniken der Floristikbranche, etwa im Geschäft ihrer Familie. Hier wird ebenfalls mit reichlich Lug und Trug am schönen Bild der vermeintlich natürlichen Schnittblume gearbeitet. So manches ist, ja noch recht harmlos, mit Draht „stabilisiert“, anderes wird mit Glycerin für sechs Jahre haltbar gemacht und mit künstlichem Duft angereichert. Den großen Oberlichtsaal des Kunstvereins tauchte Marchand nun in das wachstumsfördernde rosa Licht der Pflanzenzuchtbetriebe – das Sinnbild für eine Natur, die in geradezu perverser Weise domestiziert wird.

Der Dritte im hannoverschen Bunde ist Sven-Julien Kanclerski, der im vergangenen Jahr das einjährige Atelierstipendium absolvierte. 1988 in Langenhagen geboren, hat er in Braunschweig studiert, war 2019 Meisterschüler bei Thomas Rentmeister. Nominell für Bildhauerei zuständig, vertritt Rentmeister eine große Bandbreite der „Skulptur“: Objektkunst, situationsbezogene Installationen, Film, Fotografie, Zeichnung und Performance.

Fehlinterpretationen und Fehlleistungen wie die „TET-Stadt“ des Keksherstellers Bahlsen zerlegt und neu zusammengesetzt: Till Wittwer setzt sich mit dem auseinander, was wir „wirklich“ nennen Foto: Mathias Völzke

Dieser Auffassung folgt sichtlich auch Kanclerski, er transformiert technische Produkte oder Halbzeuge zu neuartigen, bildhaften Konstrukten subkultureller, oder wie er sagt „antikapitalistischer“ Aufladung. Da werden etwa Kinderfahrräder in Pink und Bleu zu einem hohen „Skywalker“ aufeinandermontiert, er erscheint funktionstüchtig mit langer Kette und akkurater Bremsleitung – obwohl: Die Fahrtauglichkeit demonstrieren möchte Kanclerski dann doch nicht.

Bereits im Foyer empfängt seine große Arbeit „Insight Outside“: ein verschlossenes Raumsegment mit Dachfenster und Zinkblechdeckung, das von innen erleuchtet wird. Hier erkennt man auch die Liebe zur handwerklich subtilen Oberflächengestaltung, die Sven-Julien Kanclerski mittlerweile zum Brotberuf ausgeweitet hat. Er arbeitet, wie manch anderer Künstler, als Betonkosmetiker im Baugewerbe. Denn irgendwann, so meint er, muss man ja den Nachwuchs­stipendien entwachsen.

Preis des Kunstvereins Hannover. Sven-Julien Kanclerski, Luise Marchand, Till Wittwer: bis 9. 10., Kunstverein, Sophienstr. 2, https://www.kunstverein-hannover.de