Endlich wieder nach Hause kommen

Endlich wieder Festivals, endlich wieder frei fühlen Foto: Paul Weisflog/imago

Seit fast 15 Jahren fahre ich Ende Juni – wenn nicht gerade Pandemie herrscht – zur gleichen Zeit an den gleichen Ort. Es fühlt sich längst wie nach Hause kommen an. Ein Zuhause, das ich mir mit knapp 70.000 Menschen teile, unter freiem Himmel, auf einem ehemaligen Militärflugplatz in Mecklenburg-Vorpommern. Die anderen und ich suchen und finden dort die Freiheit für Ekstase und Exzess, mit möglichst allem, was Spaß macht und niemandem wehtut. Ohne Richter, ohne Urteil. Vier Tage lang.

Dieses Jahr geht die Festivalsaison wieder so richtig los. Das Zuhause, von dem ich spreche, ist auch ein Musikfestival, aber ein besonderes. Der kleine Verein, der diesen vier Tagen Freiheit jedes Jahr aufs Neue Raum gibt, nennt das kollektive, nichtkommerzielle Großereignis: Fusion.

Es gibt trockene, heiße Fusions und kalt-nasse, gewittrige. Es kommt vor, dass die Knöchel beim Tanzen im Matsch versinken, der Wind ganze Zelte in den Himmel hebt, Pavillons unter dem Gewicht der Wassermassen in die Knie gehen. Die Bäuerinnen und Bauern hierzulande beschrieben den Fusion-Monat Juni einst mit passenden Regeln: „Im Juni ein Gewitterschauer macht das Herz gar froh dem Bauer.“ Oder: „Ist der Juni warm und nass, gibt’s viel Korn und noch mehr Gras.“ Als hätten es die Land­wir­t:in­nen immer schon gewusst: Wer fusioniert, trotzt jedem Starkregenereignis.

Das Festival findet kurz nach der Sonnenwende statt, die Tage sind lang, die Nächte kurz. Aber das spielt auf der Fusion genauso wenig eine Rolle wie das Wetter. Sie hat ihre eigene Zeit, und die gleitet dahin, zurückhaltend, bedeutungslos. Es sind Stimmungen, die der Fusion-Zeit Struktur geben. Etwa wenn der Morgen anbricht. Dann treffen die ersten Sonnenstrahlen auf den von tanzenden nackten Füßen aufgewirbelten Staub und tauchen die Schwaden der Nebelmaschine in goldenes Licht. Die Nachtkühle zieht sich zurück, vielleicht denkst du ans Schlafengehen, vielleicht auch nicht, ist auch egal.

Dann, irgendwann, ist sie vorbei, die Schwerelosigkeit der Fusion. Aber eine Freude hält sie noch bereit – das Ankommen im anderen Zuhause. Und das ist besonders schön, wenn es geregnet hat. Dann hängen in Berlin-Kreuzberg, in Friedrichshain und Neukölln die Zelte aus Fenstern und von Balkonen zum Trocknen. Und für einen Moment fühlst du dich geborgen inmitten der Anonymität einer uferlosen Stadt. Langsam weicht das letzte bisschen Wehmut der Vorfreude auf eine Dusche und ein echtes Bett. Doch es dauert nicht lang, da kommt sie wieder, die Sehnsucht nach dem nächsten Mal. Über zwei Jahre ist sie nun gewachsen, und verwandelt sich dieser Tage in pures Glück: In 17 Tagen schon fahre ich wieder nach Hause.

Nora Belghaus