Jasmin Ramadan
Einfach gesagt
: Grammatische Unendlichkeit

Foto: Roberta Sant‘anna

Jasmin Ramadan ist Schriftstellerin in Hamburg. Ihr letzter Roman „Hotel Jasmin“ ist im Tropen/Klett-Cotta-Verlag erschienen. 2020 war sie für den Bachmann-Preis nominiert. In der taz verdichtet sie im Zwei-­Wochen-Takt tatsächlich Erlebtes literarisch.

Angela Merkel fehlt mir so!“, sagt der Mann am Kanal und wischt sich über die Augen.

„Wie jetzt, sie fehlt dir?“, fragt seine Freundin.

„Na, man merkt doch irgendwie, dass sie nicht mehr da ist.“

„Wie das? Du spinnst!“

„Nee, ich spinn’nicht, das geht jetzt vielen so im Internet, sogar auch solchen, die sie nie gewählt hätten.“

„Versteh’ich nicht, woran ich das jetzt merken sollte, dass sie nicht mehr zugegen ist, sie stand mir ja jetzt nicht nah als Mensch oder so.“

„Aber sie erscheint nicht mehr, um sich zu äußern in der Krise, und das macht mir irgendwie Angst!“, sagt er und spannt seinen Schirm auf.

„Mach den wieder zu, es nieselt bloß und Angela Merkel hat es auch nicht besser gemacht!“

„Es?! Was meinst du denn mit ‚Es‘?“

„Na, jegliche Situation im Großen und Ganzen.“

„Definier’mal klarer!“

„Pah! Du sagst, sie fehle dir … Das ist erst recht undefiniertes Blabla!“

„Eine Volksansprache ist nichts Undefiniertes, und da fehlt sie mir, diese Rationalität. Jetzt sagt der eine von den Neuen mal was und dann die andere, und alle wirken dabei so fahrig und unausgeschlafen, genau so wie mein Freundeskreis, nicht wie erhabene Politiker:innen!“

„Wer ist denn eigentlich das Volk? Also ich fühl’mich da nicht pauschal angesprochen!“

„Faktisch bist du das aber!“

„Nee, bin ich nicht, ich bin nicht eine Soße mit allen.“

„Doch, das bist du, das Volk ist die Summe aller hier registrierten, du, ich, das Arschloch aus dem Parterre, da brauchst du dich gar nicht gegen wehren!“

„Doch, dagegen wehre ich mich, ich bin nicht das Volk!“

„Nee, du nicht: Wir sind das Volk!“

„Pathetisches Geschrei, und was bedeutet das überhaupt: Ich, du, er, sie, es, wir, ihr, sie!“

„Na, streng genommen sind das Personalpronomen.“

„Du kannst das jetzt nicht einfach grammatisch erklären!“

„Besser philosophisch, oder was?“

„Warum nicht? Zu guter Letzt ist alles kryptisch, weil alle bloß im eigenen Kopf wohnen, eigentlich wissen wir gar nicht, ob wir überhaupt existieren oder wer sonst noch.“

„Angela Merkel hat existiert und sie war wer!“

„Meinetwegen, du politisch abstruser Melancholiker, am Ende sind wir ohnehin allein im All und Alltag, egal wer uns anführte, anführt, anführen wird oder angeführt haben worden wird!“

„Papperlapapp, ich hab mich besser gefühlt, wenn Angela Merkel zu mir gesprochen hat!“

„Zu dir? Jetzt werd’nicht wirr, solange du sie nie persönlich getroffen hast, weißt du null, ob sie bloß ein Geist oder Hologramm war!“

„Ich vermisse sie eben, es ist alles so haltlos ohne sie.“

„Ach komm, lass dich drücken.“

„Weißt du noch: das „Nichts“, in ‚Die unendliche Geschichte‘!“

„Ja! Wie haben die das „Nichts“ da in Fantasia noch mal in den Griff gekriegt?“

„Na, mit viel Fantasie, oder?“

„Stimmt, ein Kind hat sich was Neues ausgedacht und alles war wieder gut!“

„Warum war das ein Kind?“

„Na, wegen der Naivität, der Hoffnung, dem Glauben an das Gute.“

„Ach ja, das.“