Auf der Suche nach dem guten Gefühl

Tennis Beim Saisonfinale der acht Besten in London will Novak Djokovic nach einer Phase der Zweifel und Frustrationen wieder in der Weltrangliste die Spitzenposition übernehmen

Muss sich mehr strecken: Djokovic beim Auftaktspiel Foto: dpa

London taz | Als Novak Djokovic zuletzt beim Pariser Hallen-Masters vergeblich versuchte, seine Führungsposition in der Weltrangliste vor dem Herausforderer Andy Murray zu retten, hatte auch Boris Becker etwas zu tun. Der Chefcoach des Langzeitdominators der Tenniswelt war allerdings keineswegs im Palais Omnisports anzutreffen, sondern bei einem Pokerturnier in Nottingham – dort gewann der 49-jährige Zocker 15.000 britische Pfund, sammelte 211,92 Punkte für den General Poker Index und 157,99 Punkte für den sogenannten Player of the Year-Index. Es war einer dieser leicht bizarren Momente in einem verrückten Jahr mit Djokovic und Becker, dem nominell obersten Übungsleiter.

Becker, aber auch Djokovic’ noch längerer sportlicher Wegbegleiter, der Slowake Marijan Vajda, wurden in Paris sehr offiziell und sehr demonstrativ nicht gebraucht vom schwächelnden, Sinn suchenden Dienstherrn. Erst jetzt in London sitzt das gut harmonierende Trainerduo wieder am Rande des Centre Court – zurückbeordert vom abgelösten Branchenführer, vielleicht auch wieder in der Hoffnung, mit ihnen, den gewohnten Vertrauten, die WM zu gewinnen.

Und den Platz an der Sonne zurückzuerobern, was bei einem Rückstand von rund 400 Punkten auf Heimspieler Murray keineswegs utopisch ist. Djokovic, Becker, Vajda – alles scheint, wenigstens auf den ersten Blick, wieder so normal und wie immer in London, rund um die Arena, in der Djokovic zuletzt viermal hintereinander bei der WM einsam triumphierte und am Sonntag sein erstes Gruppenmatch gegen den Österreicher Dominic Thiem mühsam in drei Sätzen gewann. „Novak ist heiß darauf, den Titel zu verteidigen und ein Zeichen zu setzen“, sagt Becker. Zweckoptimismus? Oder steckt da auch Wahrheit und Gehalt drin in Beckers Worten?

Vor drei Jahren, beim Championat im Londoner Osten, wurden die letzten Details des sensationellen Trainerdeals zwischen dem Haus Djokovic und dem dreimaligen Wimbledonsieger aus Deutschland vereinbart. Nun, bei der WM 2016, weiß man nicht so genau, ob es eine Abschiedsvorstellung des Duos Beckovic werden könnte, ein letztes Hurra nach ziemlich wunderbaren Jahren und einer jüngst aufgetretenen Leistungs- und Ergebniskrise. Klarheit über Personen und Positionen im Team Djokovic des Jahres 2017 wird man erst nach diesem Titelkampf erhalten. Da alle Aufmerksamkeit zunächst den Matches gilt, geben sich alle Beteiligten bedeckt. Djokovic, sagen Insider, halte sich noch alle Optionen offen, wisse selbst nicht definitiv, wie es weitergehen solle.

Fakt aber ist sportlich dies: Erstmals seit über zweieinhalb Jahren findet sich der zwölfmalige Grand-Slam-Sieger nicht mehr in der Rolle desjenigen wieder, den die gesamte Meute hetzt. Beim Saisonfinale der acht Besten ist Djokovic so nicht nur der Verteidiger des Erreichten, in diesem Falle des Titels, sondern auch nach einer gefühlten Ewigkeit mal wieder der Mann, der dazu- und zurückgewinnen kann: den offiziellen Rang des besten Spielers des Planeten. Und bei allen Meriten von Murray wäre Djokovic auch ein verdienter Nummer-1-Mann zum Serienabschluss, wenn er neben den Australian und French Open und diversen anderen Turniererfolgen nun auch noch die WM im Herzland des Rivalen für sich entscheiden würde. Wie schwierig das werden kann, illustrierte Djokovic’ hart erkämpfter Sieg gegen Thiem. Und wie dünnhäutig er derzeit ist, auch dies zeigte zunächst die Partie, besonders in jenem Moment, als er nach verlorenem ersten Satz einen Ball in die Arena abfeuerte – da schrammte er sogar an einer möglichen Disqualifikation vorbei.

Nun weiß man nicht genau, ob es eine Abschiedsvorstellung des Duos Boris Becker/Djokovic wird

Nach einer Periode der Zweifel und Frustrationen muss Djokovic seine Qualitäten erst einmal wieder in London unter Beweis stellen. Ob in diesen Tagen die Rolle des Jägers der verlorenen Schätze erfolgreich einnehmen können wird – weiß keiner seriös vorherzusagen, keiner hat derzeit einen wirklich präzisen Einblick in die Befindlichkeiten von Djokovic. Der Titel wird über ihn führen, trotz allem. Und das ist auch sein großes Ziel: dieses verrückte Jahr mit einer versöhnlichen Schlussnote zu beenden. „Ich will mit einem guten Gefühl in die Ferien und dann in die neue Saison gehen“, sagt Djokovic. Jörg Allmeroth