Jetzt erst recht

SPD-Parteitag Sigmar Gabriel interpretiert das miese Wahlergebnis als Vorsitzender auf seine Weise. Was bedeutet die Klatsche für den Chef, was bedeutet es für seine Partei?

Drei-Viertel-Chef Gabriel auf dem Parteitag Foto: Fabrizio Bensch/reuters

aus Berlin von Ulrich Schulte

Diese Klatsche wird Sigmar Gabriel der SPD nie vergessen: Die Basis hat ihm mit dem Wahl­ergebnis von 74,3 Prozent ja nicht nur ein Misstrauensvotum ver­passt. Sie demütigte einen Mann, der das Gefühl hat, sich für die SPD aufzureiben. Gabriel sei „geschockt“ gewesen, berichten Spitzengenossen. Was sind die wichtigsten Folgen des denkwürdigen SPD-Parteitags in Berlin?

Beschädigung

Natürlich hat Gabriel sofort verstanden, was das für ihn bedeutet: „In den Zeitungen wird stehen, Gabriel wurde abgestraft.“ Das war sein erster Satz nach der Klatsche. Er ist ab sofort der Drei-Viertel-Chef, ein geschwächter Vorsitzender.

In der Tat stellen sich nun viele Fragen. 74,3 Prozent, das ist das schlechteste Ergebnis, das je ein einzelner Bewerber für den SPD-Vorsitz bekam. Ändert Gabriel jetzt den Kurs der SPD-Spitze, geht er auf seine linken Kritiker zu? Kann er die Partei weiter führen? Darf er, mit so viel Misstrauen im Rücken, die Kanzlerkandidatur übernehmen?

Reaktion

Gabriels Reaktion ist typisch für ihn. Entschlossen, kampfeslustig und sehr undiplomatisch. Motto: Jetzt erst recht. Nun sei mit Dreiviertelmehrheit entschieden, wo es langgehe, sagte er kurz nach der Bekanntgabe des Ergebnisses. „Und so machen wir das auch.“

Wie wenig Lust er verspürt, sich linkem Druck aus der Partei zu beugen, zeigte er in der Debatte über Freihandel am Samstag. Da belehrte er die Delegierten in Staatskunde. Der Parteitag tue so, als könne er die Verhandlungslinie Europas bestimmen. In der Außenpolitik gelte aber das Prinzip „pacta sunt servanda“, also: Geschlossene Verträge seien einzuhalten. „Wer regieren will, muss die Regeln des Regierens kennen.“ Das saß, aber beliebt macht sich Gabriel mit solchen Sätzen nicht.

Kurs der SPD

Dass Gabriel den staatstragend-­bürgerlichen Kurs der SPD ­ändert, ist unwahrscheinlich, wenn nicht ausgeschlossen. Während des Parteitags hat er nie verschwiegen, was mit ihm zu machen ist und was nicht. Gnadenlose Ehrlichkeit war offenbar der rote Faden, den er sich vorgenommen hatte.

Gabriel ist Wirtschaftsminister in einer Großen Koalition. Er findet Steuererhöhungen falsch, weil Wirtschaftswachstum mehr Staatseinnahmen bringt. Er hält den in drei Tagen hektisch beschlossenen Syrien-Einsatz der Bundeswehr für notwendig. Er ist zwar gegen Obergrenzen in der Flüchtlingspolitik, aber er möchte den Zuzug der Geflüchteten verlangsamen. In seiner Grundsatzrede wies er ausdrücklich auf diese Differenzen zu den SPD-Linken hin, für viele in der Messehalle waren das Provokationen.

Gabriel treibt die SPD weiter in die viel beschworene Mitte, in die alle wollen. Wobei Gabriel Mitte etwas anders definiert als etwa CDU-Strategen. Er spricht gerne von der „sozialen“ oder „arbeitenden“ Mitte, weil das proletarischer klingt – und schlecht verdienende Krankenpfleger einschließt, die nicht zur CDU-Klientel gehören.

Ursachenforschung

Über die Gründe für die Abstrafung kursieren in der SPD viele Theorien. Viel spricht dafür, dass das Ganze eine Art Betriebsunfall war. „Da äußerte sich unkoordiniert die Unzufriedenheit verschiedener Leute“, sagt ein Mitglied der Parteispitze.

Die einen Delegierten haben Bauchschmerzen mit TTIP, die anderen finden den Syrien-Krieg falsch. Manche werfen Gabriel vor, dass er die Vorratsdatenspeicherung durchdrückte. Andere fanden sein Hin und Her während der Griechenlandkrise fürchterlich. Eine SPDlerin aus einem eher linken Landesverband berichtet, ein Fünftel ihrer Delegierten sei „mit der Faust in der Tasche“ zum Parteitag gefahren.

Gabriel und die Frauen

Sigmar Gabriel ist beides, Staatsmann und Raufbold. Er bügelte Marietta Slomka ab, die Moderatorin des „heute-journals“, als sie ihn kritisch zum Mitgliederentscheid vor der Großen Koalition befragte. Im Oktober zoffte er sich mit der ZDF-Journalistin Bettina Schausten. Stets blieb als Eindruck hängen: Schlecht gelaunter Mann arbeitet sich an professioneller Frau ab.

Auf dem Parteitag traf es Juso-Chefin Johanna Uekermann. Sie hatte Gabriel zuvor per Interview eine „Vier minus“ in der Asylpolitik erteilt. Als sie ihm dann am Rednerpult vorwarf, er setze nicht um, was er verspreche, platzte Gabriel der Kragen. In einer fulminanten Attacke machte er die Juso-Frau platt. „Taktisch war das ungeschickt“, räumt ein Spitzengenosse ein. Viele Delegierte hielten den Goliath-gegen-David-Angriff für übertrieben.

Viel spricht dafür, dass alles eine Art Betriebsunfall war

Ventil-Theorie

Unter Journalisten kursiert die These, jeder SPD-Parteitag verschaffe seinem allgemeinen Ärger durch ein Ventil Luft. In der Vergangenheit mussten zum Beispiel Generalsekretäre des Öfteren schlechte Ergebnisse hinnehmen, obwohl der Chef gemeint war. Dieses Mal hat der Parteitag das größte Ventil geöffnet, das er finden überhaupt konnte.

Interessant ist, dass die Delegierten Gabriel ansonsten bei allen Inhalten folgten. Alles andere wäre nach dem Dämpfer, den sie ihrem Chef verpasst hatten, aber auch auf eine komplette Demontage Gabriels ­hinausgelaufen.

Kanzlerkandidatur

Wäre die SPD-Kanzlerkandidatur ein attraktiver Job, würden die Karten neu gemischt. Sigmar Gabriel hat ja bereits verraten, dass er die Kandidatur übernehmen würde, falls die Partei ihn wolle. In einem Wahlkampf wäre aber entscheidend, dass die SPD engagiert mitzieht. Ob Gabriel das 2017 gelingen wird, kann man nach diesem Parteitag bezweifeln.

Das Problem ist aber, dass den Job außer Gabriel keiner machen will. Das ist zumindest der Stand heute. Angela Merkel ist trotz der unions­internen Que­relen in der Flüchtlingspolitik eine sehr starke Konkurrenz. Mögliche KonkurrentInnen dürften wenig Lust verspüren, sich in einem aussichtslosen Wahlkampf zu verbrennen. Sie warten eher auf die Post-Gabriel-Ära.

Aber nach Gabriels Parteitagsdesaster ist die Situation offener. Schien die Kandidatur bisher auf den Chef zuzulaufen, ist das jetzt kein Automatismus mehr.