Kommentar Ungarn: Sündenböcke in der Krise

Gewalttaten gegen die Roma werden praktisch nie geahndet - sie sind eine Minderheit. Leider fühlen sich die Täter dadurch sicher.

Ungarn pflegt für den Tourismus zwar gerne die Klischees von Zigeunerromantik und fiedelndem "Cigan" im Restaurant. Doch wie die Roma wirklich leben, kriegt kaum ein Tourist zu sehen. Ja, auch die meisten Ungarn haben noch nie einen Fuß in einen der Roma-Slums gesetzt, wo die Straßen nicht gepflastert sind, sauberes Trinkwasser fehlt und die Stromversorgung besonders oft zusammenbricht. Und egal, ob es Geldverleiher oder rechtsextreme Schläger waren, die den Mord an zwei ungarischen Roma zu verantworten haben: Die Täter fühlten sich sicher, da Gewalttaten gegen diese Minderheit praktisch nie geahndet werden.

Der Wirtschaftsboom, der Teile Ungarns an das EU-Niveau herangeführt hat, ist am Osten und den Wohngebieten der Roma spurlos vorübergegangen. Die aggressive Grundstimmung gegen die Minderheit wird durch manche Medien verstärkt. Und Lokalpolitiker können sich des Beifalls der Mehrheit sicher sein, wenn sie die Auszahlung von Arbeitslosengeld an Roma an die Verrichtung von gemeinnütziger Arbeit knüpfen. Übersehen wird, dass die meisten gerne Lohnarbeit verrichten würden, aber - nicht zuletzt, weil sie diskriminiert werden - keinen Job finden.

Unter dem kommunistischen Regime wurden die Roma sesshaft gemacht - gleichzeitig zwang man sie, ihre Kinder in die Schule zu schicken. Seit der Wende wird es mit der Schulpflicht nicht mehr so ernst genommen. Viele verelendeten Roma sehen ihre Kinder als wertvolle Arbeitskräfte an; von Bildung versprechen sie sich wenig. Die Ausgegrenzten wissen, dass sie gegen die Vorurteile der Mehrheitsgesellschaft keine Chance haben.

Je tiefer die politische und wirtschaftliche Krise in Ungarn, desto mehr Zulauf erhalten rechtsextreme Gruppen. Bewaffnete Milizen mit nationalistischen und faschistoiden Parolen sprießen aus dem Boden. Nach Ausschreitungen bei Demonstrationen wurden zwar schon Gewalttäter festgenommen. Mehr als eine kurze Haftstrafe gab es für sie aber nicht. Kein Wunder, dass man da für ein Verbrechen an "Zigeunern" kaum mit Verfolgung und Strafe rechnet. RALF LEONHARD

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*1955 in Wien; † 21. Mai 2023, taz-Korrespondent für Österreich und Ungarn. Daneben freier Autor für Radio und Print. Im früheren Leben (1985-1996) taz-Korrespondent in Zentralamerika mit Einzugsgebiet von Mexiko über die Karibik bis Kolumbien und Peru. Nach Lateinamerika reiste er regelmäßig. Vom Tsunami 2004 bis zum Ende des Bürgerkriegs war er auch immer wieder in Sri Lanka. Tutor für Nicaragua am Schulungszentrum der GIZ in Bad Honnef. Autor von Studien und Projektevaluierungen in Lateinamerika und Afrika. Gelernter Jurist und Absolvent der Diplomatischen Akademie in Wien.

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