ARD-Serie "Unsere 60er Jahre": Geschichte von unten

Die ARD zeigt ab Montag "Unsere 60er Jahre. Wie wir wurden, was wir sind" - eine herausragende Aufarbeitung eines Jahrzehnts in sechs Teilen.

So fühlte sich Deutschland damals an? ARD-Serie "Unsere 60er Jahre" Bild: HR/zero one film/Privatfoto

eitdiagnostisches über diese Dekade wird - aus der Haltung konservativer Nervosität heraus - meist in alarmierenden Tonfällen geäußert: Eva Herman und Bild-Chefredakteur Kai Diekmann, um nur die lautesten Stimmen zu nennen, erkennen in den Sechzigerjahren beginnenden Verfall, Auszehrung, Verluderung. Alles sei damals zu zerstören begonnen worden, Familie, Volk und Vaterland. Und dass diese These eine Lüge ist, eine hysterisch verpackte obendrein, belegt eine ARD-Dokumentation, die Michael Wulfes für den Hessischen Rundfunk angefertigt hat. "Unsere 60er Jahre. Wie wir wurden, was wir sind".

Wir - und vor allem Jüngere, damals vielleicht eben Geborene - sehen hier über diese Zeit vieles, das garantiert fassungslos macht. So fühlte sich Deutschland damals an? Wie ein horribler Überwachungsstaat der Moral, eine Gesellschaft der Einschränkung und Verbote? So war es tatsächlich. Ein Land, das Sex geißelte. In dem die ersten Gastarbeiter buchstäblich auf Herz und Nieren geprüft wurden und, schließlich unter Vertrag genommen, in Baracken zu hausen hatten, die irgendwie an Hochsicherheitsgefängnisse erinnerten. Ein Jahrzehnt, in dem eine junge Frau in ein Heim gesteckt wurde, weil sie sich einen Nachmittag lang mit den sogenannten Gammlern gemeingemacht hatte. In dem Kinder nicht über den Rasen laufen durften und höhere Bildung eine Domäne für Jungs zu bleiben hatte - Mädchen hatten schließlich ein naturgegeben scheinendes Schicksal als Hausfrauen vor sich.

Beglaubigt werden diese Umstände - und das ist das Wichtigste an dieser Reihe - nicht allein durch offizielle Filmaufnahmen, sondern durch Zeitzeugen: Frauen und Männer aus der BRD wie der DDR, die aus je unterschiedlicher Perspektive schildern, was sie zu erinnern haben. Da sind die Tochter eines Farbenhändlers; die einer alleinerziehenden Mutter; der Sprössling eines Mittelstandsunternehmens aus der Pfalz; der Stahlarbeiter aus dem Ruhrpott; die Frau, die allein durch ein Kind an allem gehindert wurde, was ihr im Leben noch vorschwebte; einer, der als Gastarbeiter in die Bundesrepublik kam und sich nicht unterkriegen lassen wollte; und schließlich eine Studentin in Westberlin, die in diesen Jahren ihr Coming-out wagte.

Sie alle - das zeigt diese Dokumentation eindringlich - waren im Grunde Mutige und auf je persönliche Art Verwegene, die mal langsam, mal schneller ihre Korsetts nicht mehr akzeptierten. Sie alle flohen aus einengenden Verhältnissen - und die Studentenbewegung war nur der medial sichtbarste Part dieses Aufbruchs, der die ganzen Sechzigerjahre erfasste.

Diese Reihe ist vermutlich bereits jetzt das Beste, was zum 40-jährigen Jubiläum der so genannten Achtundsechziger-Bewegung im nächsten Jahr zu sehen sein wird: keine Folklore, die nur die akademischen Milieus selig ins Bild nimmt, sondern ein Panorama, das alle Gesellschaftssegmente belichtet - auch die der sogenannten kleinen Leute. Lehrmaterial für Geschichtsinteressierte - spannend wie ein Kriminalroman. Nachgeborene wie Herman oder Diekmann sind offenbar in Katerstimmung. Jene aber, die die ARD hier zu Wort kommen lässt, genießen die Freiheitsgewinne noch heute.

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