Flüchtlingshilfe in Somalia klappt nicht: "Ihr Leben ist bedroht? Bitte warten!"

Ein Jugendlicher flieht aus einem Islamisten-Camp in Somalia. Ein taz-Korrespondent erlebt hautnah, wie der Flüchtling behandelt wird.

Auf der Flucht: Somalier nahe der Grenze zu Kenia. Bild: reuters

Die SMS erreicht meine Kollegin mitten in der Nacht. "Wenn du aufwachst, denk bitte darüber nach, wie du mein Leben retten kannst. Ich kann nicht mehr. Ruf humanitäre Hilfe." Der Verfasser des verzweifelten Notrufs ist ein somalischer Informant, der uns beide in der Vergangenheit mit Geschichten aus Eastleigh, Nairobis somalischem Viertel, versorgt hat.

Die letzte Story allerdings hat noch vor uns eine kenianische Zeitung veröffentlicht, zusammen mit einem Porträt des 15-jährigen Betroffenen und einer recht genauen Beschreibung seines Unterschlupfs. Assad Abdi, ein Jugendlicher, der vor Monaten aus einem Trainingscamp der islamistischen Shabaab-Miliz geflohen ist, wurde so nur Stunden nach Erscheinen des Berichts von Shabaab-Milizen entführt.

Assad Abdi lebt ein Leben voller Schrecken. Aufgewachsen ist er mitten in Mogadischu, Somalias regierungsloser und zertrümmerter Hauptstadt. Im vergangenen Oktober betraten sein Bruder und er das elterliche Heim, gerade als eine Granate mitten ins Wohnzimmer einschlug. Sein Vater und seine Mutter wurden von der Wucht der Detonation in Stücke gerissen. Wo sein Bruder geblieben ist, weiß Assad nicht. Als er im blutgetränkten Wohnzimmer seiner Eltern stand, sah er ihn zum letzten Mal. Ein Onkel, selbst Shabaab-Kämpfer, nahm ihn auf. Nach vier Tagen weckte er Assad mit den Worten: "Du gehst ab heute zur Schule."

Dass der Campus in Dayniile am Stadtrand von Mogadischu keine normale Schule beherbergte, war Assad vom ersten Moment an klar. "Die Lehrer hatten Tarnanzüge an. Morgens haben sie uns vor Sonnenaufgang mit Tritten geweckt und zum Frühgebet gezwungen - dann mussten wir exerzieren, laufen, mit Waffen schießen." Abends wurde der Fernseher angeschaltet. "Wir mussten Videos sehen, die waren schrecklich: Sie zeigten, wie Menschen grausam hingerichtet wurden oder wie man Bomben baut."

Jeden Freitag kamen Gastdozenten an die Schule. "Einige von ihnen waren weiß und sprachen englisch, die mussten übersetzt werden: Sie haben gesagt, dass wir in andere Länder gehen sollen, um dort für den Islam zu kämpfen." Assad wollte nur eins: weg. Eines Morgens, Assad war einen guten Monat in Dayniile, fasste er sich ein Herz, als ein Lastwagen noch vor Sonnenaufgang Feuerholz ins Lager brachte. Er bettelte den Fahrer an, ihn aus dem Lager zu schmuggeln. Zwei Stunden später war Assad auf der Flucht in Richtung Kenia. Mit der Hilfe von Fremden und anderen Flüchtlingen schaffte er es allein bis nach Nairobi.

Hier, fast tausend Kilometer entfernt, hatten seine Häscher ihn jetzt geschnappt. Doch wenn Abdi auf seiner Flucht eines gelernt hat, dann, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen. Am nächsten Morgen meldet er sich bei einem Kinderheim in Garissa, der letzten kenianischen Stadt vor der Grenze nach Somalia. Assad ist erneut die Flucht gelungen: Er konnte entkommen, indem er seine Entführer überredete, ihn zum Freitagsgebet gehen zu lassen.

Während meine Kollegin ein Taxi losschickt, um Assad so schnell wie möglich aus Garissa zu bringen, beratschlagen wir die nächsten Schritte. Meine Kollegin geht auf Reisen. Für das Wochenende haben wir eine Abstellhütte auf einer Baustelle von Freunden aufgetan, in der Assad übernachten kann. Was dann mit ihm passieren soll, ist mir unklar. Ich gehe eigentlich davon aus, dass sich ab Montag jemand anderes um Assad kümmern wird.

Als ich Assad nach seiner erneuten Flucht in Nairobi treffe, irrt sein Blick meist irgendwo am Boden herum. Wenn er spricht - ich brauche einen Dolmetscher, er spricht nur Somali -, dann sehr leise und in kurzen Sätzen. Es ist, als hätte er Angst, seiner Stimme zuhören zu müssen.

Am Wochenende telefoniere ich. Eine Mitarbeiterin der Internationalen Organisation für Migration (IOM) versorgt mich mit Ansprechpartnern beim UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und ist die Erste, die mich vor überzogenen Erwartungen warnt. "Ohne ein offizielles UNHCR-Dokument, das die Verfolgung des Jungen belegt, können wir nichts machen", sagt sie. Mit diesem Papier soll es möglich sein, Assad mit anderen Frauen und Kindern in einer sicheren Unterkunft für Verfolgte unterzubringen. Im nächsten Schritt müsse dann ein Land gefunden werden, das bereit sei, Assad aufzunehmen.

Ich telefoniere mit einem sehr hilfsbereiten Angestellten beim UNHCR Somalia, der mir Mut macht, dann aber unvermittelt nachsetzt: "Ich selbst kann nichts tun. Der Junge befindet sich in Kenia, also ist das UNHCR Kenia zuständig." Ich spreche mit einer Angestellten vom Kinderhilfswerk Unicef, die mir einen Tipp gibt. "Wenn der Junge zum UNHCR muss, um sich vorzustellen, soll er auf keinen Fall durch den Besuchereingang reinkommen - da warten immer Spitzel der Shabaab. Nehmt den Nebeneingang."

Am Montagmorgen versuche ich ab acht Uhr, jemanden beim UNHCR zu erreichen. Um viertel nach neun nimmt erstmals jemand ab. Ich beschreibe den Fall, der Mann am anderen Ende der Leitung fasst zusammen. "Ihr Leben ist bedroht? Bitte warten Sie." Und ich warte - fast den ganzen Tag. Anfangs ist noch niemand im Büro, dann sind "vermutlich alle in einer Besprechung". Genau kann der Telefonist das allerdings nicht sagen, denn: "Ich sitze hier ja nur am Telefon, ich weiß nicht, warum niemand abnimmt." Durchwahlnummern allerdings, das weiß er, darf er ebenso wenig herausgeben wie Mobilnummern, selbst wenn es sich um einen Notfall handelt. "Da müssen Sie Verständnis haben." Als er mir gegen 14 Uhr anbietet, ob ich es nicht morgen wieder probieren will, setzt mein Verständnis endgültig aus. Ich fahre zum UNHCR und werde - als Weißer und offenbar Nichtflüchtling - problemlos durch den Nebeneingang eingelassen.

Ich setze mich vor die Eingangstür und warte, weil immer noch eine Besprechung stattfindet. Zwischendurch telefoniere ich mit einer Freundin, die Kinderheime abgeklappert hat. Niemand ist bereit, einen flüchtigen Jugendlichen unterzubringen. Ein Problem, denn meine Freunde werden langsam ungeduldig: Auf der Baustelle werden Fragen gestellt, auch Somalis arbeiten dort. Einer empfiehlt ein katholisches Heim, das schon oft Flüchtlingen aus dem Kongo geholfen habe. Die Ablehnung kommt prompt: Man mache so etwas nicht, bescheidet ein Pastor namens Joseph Waweru. Schließlich erbarmt sich eine UNHCR-Angestellte. Die mir anempfohlenen Chefs seien immer noch in der Besprechung, aber ich solle doch morgen gegen 15 Uhr kommen, Assad mitbringen und mit einem Sachbearbeiter namens John sprechen.

Die Nacht verbringt Assad erneut auf der Baustelle, weil niemand anderes bereit ist, ihn aufzunehmen. Als meine Freundin um 15 Uhr mit Assad ankommt, wird er am Nebenportal zurückgewiesen. Die beiden müssen das UNHCR durch den Besuchereingang betreten - und finden sich in einem Innenhof wieder, in dem gut einhundert Somalis warten und das ungleiche Paar anstarren. Es dauert eine Viertelstunde, bis ich den widerwilligen John dazu bewegen kann, von seinem Tisch aufzustehen und die beiden zu holen. Verstört sitzt Assad da, bis John ihn schließlich in ein Verhörzimmer holt. Eine halbe Stunde später kommt er zurück und richtet das Wort an uns: "Kommen Sie morgen wieder, die Übersetzerin hat Feierabend." Für Unterkunft, erklärt John, sei das UNHCR nicht zuständig. "Schicken Sie ihn doch in ein Hotel in Eastleigh."

Am nächsten Tag lassen wir nicht locker, bis wir durch den Nebeneingang eingelassen werden. Ich frage mich, was Flüchtlinge machen, die keinen englischsprachigen Begleiter haben. Die zweite Hälfte der Befragung vergeht, und John bringt Assad zurück. "Wir werden das jetzt auswerten, melden Sie sich mal Ende nächster Woche." Das Schlimme ist, zu wissen, dass wir John ausgeliefert sind: Er ist derjenige, der entscheiden wird, ob Assads Fall eine beschleunigte Behandlung rechtfertigt, ob sein Antrag oben oder unten auf dem Stapel landet. Wir gehen also, obwohl wir nicht wissen, was wir mit Assad jetzt anfangen sollen.

Die rettende Idee

Inzwischen habe ich erfolglos bei Botschaften und Hilfsorganisationen nachgefragt: Niemand ist in der Lage, schnell etwas zu tun. Alle sagen, sie wollen helfen, aber alle brauchen Zeit. Die "Nothotline" von Reporter ohne Grenzen etwa fragt nach immer neuen Informationen und Unterlagen, bis wir entnervt aufgeben. Die rettende Idee kommt einem Kollegen, der seit Jahrzehnten im Land lebt und einen Schweizer Missionar kennt, der selbst ein Safe House aufgebaut hat.

Wir treffen ihn am Freitagmittag, er sitzt vor seiner kleinen Hütte in der Sonne. "Sehen Sie", sagt Pater Eugene und er zeigt auf eine Narbe, die sich quer über seinen Kopf zieht. "Da hat einer versucht, mir mit einem Vorschlaghammer den Kopf zu zertrümmern, weil ich aus seiner Sicht den Falschen in Sicherheit gebracht habe." Alles läuft unbürokratisch und schnell. Er gibt uns eine Wegbeschreibung. Als wir Assad abliefern, erklärt die resolute Leiterin: "Keine Besuche, keine Telefonate. Der Junge ist jetzt in Sicherheit." Zum ersten Mal in dieser Woche fällt mir ein Stein vom Herzen.

Nach mehreren Wochen meldete sich tatsächlich das UNHCR. Assad lebt inzwischen in einer sicheren Unterkunft. Ein Land, das ihn aufnehmen will, ist aber noch nicht gefunden.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.