Kampfzone Talkshow

Frankreichs Intellektuelle sind gespalten: Während die einen jetzt sogar Nicolas Sarkozy unterstützen wollen, haben die anderen zur Wahl ein solides linkes Manifest vorgelegt

Rudolf Walther lebt als Journalist in Frankfurt am Main und arbeitet für deutsche und schweizerische Zeitungen. Zusammen mit Werner Bartens und Martin Halter schrieb er das „Letzte Lexikon“, das bei Eichborn erschienen ist.

Viele französische Intellektuelle, die man der Linken zurechnete, erklären im Präsidentschaftswahlkampf ihre Sympathien für den rabiat-konservativen Kandidaten Nicolas Sarkozy. Den Anfang machte der unvermeidliche André Glucksmann Ende Januar mit einem Artikel für Le Monde. Darin servierte er Binsenwahrheiten – „die Gesellschaft entwickelt sich, und die Prinzipien müssen sich mit dieser zusammen entwickeln“. Er begründete aber auch, warum er Sarkozy wählen wird: Wie dieser bei einem Besuch in Jad Vaschem höre auch er „das Murmeln der unschuldigen Seelen“ und dies sei immer schon die Grundlage seines Denkens gewesen. Scham- und geschmackloser kann man Opfer nicht instrumentalisieren.

Nach Glucksmann bekannten sich Max Gallo, ehedem Regierungssprecher Mitterrands, der Politaktivist Pascal Bruckner sowie der Psychologe Pierre-André Taguieff zu Sarkozy. Bernard- Henri Lévy, Alain Finkielkraut und Régis Debray hielten sich bedeckt und machten nur deutlich, dass sie die sozialistische Kandidatin – die das Wort „sozialistisch“ strikt meidet – nicht wählen werden.

Der Rechtsschwenk der Intellektuellen hat verschiedene Ursachen und ist nicht neu. Einen Grund nannte der 1921 geborene Widerstandskämpfer und Intellektuelle Edgar Morin schon vor Jahren. Als maßgeblicher Intellektueller begrüßte er die Revolte von 1968 und erwartete von ihr eine neue Politik. Er merkte jedoch bald, dass dem Nachwuchs eine Eigenschaft dafür fehlte, „die Leidenschaft für Kritik“. Viele der jungen Intellektuellen waren – so Morin – „ehemalige Stalinisten und Maoisten“, denen „der kritische Geist völlig abging“. Diesem Personal ist der intellektuelle Konformismus zur zweiten Natur geworden. Mit dem Untergang der Sowjetunion und der Durchkapitalisierung Chinas „normalisierten“ sich viele Ex-Stalinisten und Ex-Maoisten und rückten nach rechts.

Natürlich vollzog sich diese Wende individuell verschieden. Philippe Sollers und Alain Minc etwa katzbuckelten schon 1995/96 vergeblich vor Édouard Balladur in der Hoffnung auf ein Ministeramt nach dessen Wahlsieg. Alain Finkielkraut entdeckte zunächst seine Neigung für eine reaktionäre Schulreform. Zuletzt überraschte er das französische Publikum damit, dass er die Pariser Vorstadt-Krawalle als „Krieg“ von Islam und Nordafrikanern gegen Christentum, Judentum und Frankreich interpretierte. Bruckner wiederum lernte schätzen, was Sarkozy, der die Vorstädte mit dem Hochdruckreiniger säubern wollte, „über Erziehung und Patriotismus sagt“.

Es gibt ein Schlüsselereignis für die Spaltung der Intellektuellen. Ende 1995 streikten die französischen Eisenbahnarbeiter wochenlang. Sie hatten über 90 Prozent der Medien gegen sich und mussten sich von diesen vorhalten lassen, sie gehörten zu den „Privilegierten“ – mit knapp 1.000 Euro Lohn. In dieser aufgehetzten Stimmung hielt einer dagegen: „Ich bin hier, um allen jenen, die seit drei Wochen gegen die Zerstörung einer Zivilisation kämpfen, unsere Unterstützung zuzusagen“, erklärte der Soziologe Pierre Bourdieu vor den Eisenbahnern.

Mit seinem Engagement spaltete Bourdieu die Intellektuellen. Sein Antipode Alain Touraine war damals innerhalb kurzer Zeit 14-mal in Fernseh-Talks zu Gast. Bourdieu dagegen besuchte Gewerkschaftsversammlungen und sprach bei Demonstrationen. In den Medien begann ein Streit: freilich nicht um die sozialen Ansprüche der Eisenbahner und des einfachen Volkes, sondern um Bourdieus Grenzüberschreitung „von der Reflexion zur Tat“, bei der er sich explizit auf seine Autorität als Wissenschaftler berief und sich damit von den Feuilletonsoziologen und Medienintellektuellen absetzte. Dem windigsten unter diesen – Bernard-Henri Lévy – warf Bourdieu vor, „ein philosophischer Journalist“ zu sein, der „alle kritischen Ideale der intellektuellen Tradition verrät“. Statt in Talks-Shows mitzumischen, gründete Bourdieu den Verlag „Liber – Raison d’agir“ („Unabhängig – Gründe zu handeln“), in dem handliche Kampfschriften in hoher Auflage erschienen und vorübergehend eine kritische Gegenöffentlichkeit zum medialen Einheitsbrei herstellten.

Das Tischtuch war zerrissen. Bourdieu reiste von Versammlung zu Versammlung, die Medienintellektuellen köchelten weiter: „Mir war wie vor einem Flipperkasten, und der Flipper, das war die Welt“ (Lévy). In ihrem smarten Gerede über alles und jedes – über „Krieg für Demokratie und Menschenrechte“ oder „Gefahren des Islamismus“ sowieso – demontierten sich diese gründlich. Ihre mediale Präsenz schrumpfte beträchtlich. Als Daniel Lindenberg sie in seinem Traktat „Le rappel à l’ordre“ (2002) als „neue Reaktionäre“ titulierte, fiel ihr Echo kläglich aus. Mehr als der verleumderische Vorwurf, Lindenberg sei ein Stalinist, fiel den Angegriffenen nicht ein. Springer-Presse, Cicero und FAZ hindert das nicht daran, diese Rechtsgedrehten als Schwurhelfer gegen alles Linke in Stellung zu bringen.

Die Figur des Intellektuellen wurde nach Sartres Tod 1980 zügig heruntergewirtschaftet. Postmodern-poststrukturalistische Scharlatane um Lyotard, Baudrillard und Virilio betrieben die Beerdigung gesellschaftskritischer Reflexion geschäftsmäßig. Mit medialem Theater und im Schweinsgalopp geschriebenen Büchern waren sie erfolgreich, bis sich das Publikum von den Windmachern verabschiedete.

Das Schlüsselereignis für die Spaltung der Intellektuellen war der Streik der Eisenbahnarbeiter 1995 Mit ihrem Gerede über alles und jedes haben sich die Medienintellektuellen selbst demontiert

Die kritische Intelligenz wurde aber nicht sprachlos, und sie verschwand auch nicht nach Bourdieus Tod im Januar 2002. Über 100 Wissenschaftler und Intellektuelle – darunter Étienne Balibar, Jacques Bouveresse und Immanuel Wallerstein – meldeten sich unter dem Titel „L’autre campagne“ jetzt mit einem Manifest in Buchform zu Wort.

Im Gegensatz zu den „100 Vorschlägen“ Royals – darunter dem Versprechen, jedem Existenzgründer ein zinsfreies Darlehen von 10 000 Euro zu gewähren – beruht das Manifest der Intellektuellen auf einer soliden Analyse der Gesellschaft und jener Bewegungen und Organisationen, die sich nicht dem „Einheitsdenken“ („pensée unique“) sowie neoliberalen und konservativen Logiken unterwerfen. Die „andere Kampagne“ versteht sich als ein Organ „der Wiederaneignung einer politischen Sprache, die den gemeinsamen Zielen und Werten der Linken (von ‚Reform‘, ‚Fortschritt‘, ‚Solidarität‘, ‚Gleichheit‘ und ‚Universalismus‘) wieder einen Sinn gibt durch eine der Situation angemessene Übersetzung“.

Dieser Anspruch wird im Buch mit 19 Texten eingelöst, die das gesamte Spektrum der Politik abdecken und konkrete Vorschläge für eine „andere Politik“ enthalten. Die Texte verstehen sich als Angebot an Sozialisten, Kommunisten, Trotzkisten und Grüne, ihre zum Teil anachronistischen Vorstellungen von Arbeit und Sozialstaat, aber auch von Armut innerhalb und außerhalb Europas oder von Bildungspolitik zu überdenken. Fazit: Die Medienintellektuellen mögen weiter plaudern und nach rechts abdriften. Die kritischen Intellektuellen aber sind nicht ausgestorben. RUDOLF WALTHER