Die neue RAF-Legende
: KOMMENTAR von STEFAN REINECKE

Brigitte Mohnhaupt hat 24 Jahre im Gefängnis gesessen. Sie hat ihre Mindeststrafe verbüßt. Weil von ihr nichts mehr zu befürchten ist, wird sie entlassen. Das ist ein völlig unspektakulärer Vorgang – und doch herrscht große Aufregung: Die üblichen Law-and-Order-Politiker sagen zähneknirschend, dass das Gesetz ihre Entlassung leider vorschreibt. In Talkshows wird Stimmung gegen die letzten inhaftierten RAF-Täter gemacht. Wie in einer Endlosschleife wird das Gespenst der RAF noch mal über die Bühne gejagt.

Die RAF hat sich vor fast zehn Jahren aufgelöst. Und doch scheint es unmöglich, einen kühlen Blick auf sie zu werfen. Im Gegenteil: Je größer die zeitliche Distanz, desto exaltierter scheint die Debatte zu werden.

So ist derzeit eine neue, „rechte“ RAF-Legende in Mode, die eine ältere, „linke“ abgelöst hat. In der linken Legende waren die RAFler irrende Idealisten: gefallene Engel, die durch einen repressiven Staat in die Ecke gedrängt wurden. Diese Lesart war falsch, weil sie Klar & Co zu Opfern der Verhältnisse erklärte und die mörderische Selbstermächtigung der Täter, ihre blutige Willkür, einfach übersah.

Die neue Lesart klingt ganz anders. Demnach war die RAF nichts als eine kriminelle Bande. Für ihre Taten gab es nie ein Motiv – außer schierer Lust an Gewalt. Die RAF kam gewissermaßen aus der Hölle, sie war das Böse. Für das Böse sind auch 24 Jahre Haft längst nicht genug – und Gnade darf es für das Böse schon mal gar nicht geben.

Auch wenn manche Exlinke heute an diesem schiefen Bild mitmalen: So war es nicht. Als die RAF 1970 begann, bekundete in einer Umfrage ein Viertel der unter 30-Jährigen Sympathie mit ihr. Es war kein Zufall, dass die RAF nach 1968 entstand. Und auch keiner, dass sie nach dem Epochenumbruch 1989/90 endlich aufgab. Die RAF ist Teil der Geschichte dieser Republik.

Doch anstatt die RAF endlich so nüchtern zu betrachten, wird sie noch immer als Folie für Abspaltungen und Projektionen gebraucht. So muss sie immer wieder als das besiegte Böse durch die Manege geführt werden, während das Publikum seine Abscheu bekundet. Eine Historisierung der RAF wird es erst geben, wenn sie als Schreckgespenst ausgedient hat.