„Man kann nicht immer die Welt retten“

Mit „Thomas Müller und der Zirkusbär“ hat die Schriftstellerin Karen Duve ihr zweites Kinderbuch vorgelegt. Oder ist es ein Erwachsenenbuch, das auch Kinder lesen können? Fragen wir doch die Schriftstellerin selbst

von MAIK SÖHLER

Der Streit begann, als wieder einmal Rezensionsexemplare zu Hause eintrafen. Schon länger beneiden mich meine Kinder um die vielen Bücher, die ich geschickt bekomme. Diesmal aber, als ich den Karton von Eichborn Berlin fahrlässigerweise vor den Augen meiner vierjährigen Tochter auspackte, ging es um mehr als Neid. „Das sind doch Kinderbücher – her damit!“, rief sie mit einem Blick auf Karen Duves Bücher „Weihnachten mit Thomas Müller“ und den jüngst erschienenen Folgeband „Thomas Müller und der Zirkusbär“.

Natürlich versuchte ich zu beschwichtigen: „Ja und nein, ja: sie sind für Kinder, und nein: das sind Bücher, die auch Erwachsenen gefallen.“ Vergebens. „Vorlesen!“, schallte es von unten herauf, und diesem kindlichen Kasernenhofton muss man sich nun mal beugen. Wir lasen beide Bücher. Der Streit ging weiter. Meiner Tochter gefiel „Weihnachten mit Thomas Müller“ besser, mir „Thomas Müller und der Zirkusbär“.

Rasch wurden die Argumente ausgetauscht, ihre sind: man kann das „Weihnachtsbuch“ „auf einen Rutsch“ lesen, die Hauptfigur – der zur Familie Wortmann gehörende Stoffbär Thomas Müller – ist „so süß“ und außerdem gefällt es ihr „eben einfach besser“. Meine Argumente für den „Zirkusbär“ sind: Es ist eine hübsche, lange und deswegen auch komplexe Geschichte rund um den entlaufenen Zirkusbär Momps, mit dem Thomas Müller nach Sibirien reisen will, am Ende aber bei Tante Gerda in Hamburg landet.

Auch als Erwachsener kann man das Buch wieder und wieder lesen, es ist zugleich hochkomisch, respektlos und hellsichtig und es spielt auf eine sehr intelligente Art mit allen nur denkbaren Klischees. So etwas, denke ich, können Kinder doch kaum erfassen, und Vierjährige schon gar nicht. Aber die Tochter bleibt hart: Nein, das andere Buch sei besser. Ich kann Streit schlecht ertragen, es braucht einen salomonischen Urteilsspruch. Entnervt rufe ich Karen Duve an und bitte um Rat. Sie muss es ja schließlich wissen.

taz: Frau Duve, welcher der beiden „Thomas Müller“-Bände ist besser?

Karen Duve: Das alte ist weihnachtlicher. Das neue ist wilder. Für mich ist immer das neuere Buch das bessere, das andere liegt ja schon so weit zurück. Aber, ehrlich gesagt, ich kann das nicht entscheiden.

Müssen Sie aber, meine Tochter und ich kommen hier alleine nicht weiter. Mir geht es um Komplexität und Abenteuer, ihr um Lektüre „in einem Rutsch“ und das schlichte Beharren auf der eigenen Meinung: es gefällt ihr „eben einfach besser“. Das ist doch ein Totschlagargument.

Nein, gar nicht, finde ich überzeugend, ich bin auf der Seite Ihrer Tochter.

Ich gebe auf. Sie leben allein?

Allein mit diversen Tieren.

Finden sich Charakterzüge dieser Tiere in den „Thomas Müller“-Bänden wieder? Da gibt es ja auch Katzen, Bären, Radiolarien und andere Tiere.

Nein, es sind eher Freunde, Exfreunde und Bekannte, die Charaktervorlagen für die jeweiligen Tiere in den Büchern vorgeben.

Wenn man allein lebt, ist das ein Vorteil oder ein Nachteil, um Familiengeschichten wie in den „Thomas Müller“-Büchern zu erzählen?

Das ist ein Nachteil. Mir hat es immer geholfen, wenn mein Neffe mal wieder zu Besuch war. Dabei merke ich dann, was Kinder so umtreibt und beschäftigt. Da brauche ich schon eine Vorlage und möchte nicht bloß vor mich hin fantasieren.

In beiden Büchern tauchen viele Markennamen auf. In der Literatur kennt man das schon länger, in Kinderbüchern nicht.

Das entspricht einfach der realen Wahrnehmung. Auch Kinder sagen, „wir standen da vorm Burger King“ und eben nicht „wir standen vor einer Fastfoodkette“. Das sind die festen Begriffe dafür. Ich bilde damit nur die Erfahrungswelt eines Kindes ab. Für die ist ein Auto nicht einfach ein Auto. Es ist ein BMW oder ein Volvo oder wie bei „Thomas Müller“ ein Ford.

Viele Eltern führen einen verzweifelten und meist aussichtslosen Kampf darum, dass die gebrandete Welt wenigstens vor der Kinderzimmertür Halt macht.

Das kann ein Problem sein. Ich sehe aber nicht ein, dass ein Buch erzieherisch auf ein Kind einwirken soll. Ein Buch soll für ein Kind das Gleiche bedeuten, was es für einen Erwachsenen bedeutet. Kindern bestimmte Sachen vorzuenthalten hieße, sie nicht ernst zu nehmen. Ich biete eine gewisse Sichtweise auf die Welt an und glaube, dass Bücher nie gut sind, wenn sie jemandem vorschreiben wollen, wie er oder sie denken soll. Ich will keine missionarische Literatur schreiben. So etwas verärgert Leser, auch kindliche Leser.

Thomas Müller bekommt zu Weihnachten einen Stapel Visitenkarten geschenkt. Haben Sie selbst eine Visitenkarte?

Nein. Ich habe mal am Automaten welche gemacht, aber die waren so schief gedruckt und sahen so billig aus, dass ich sie weggeworfen habe. Ich habe keine, obwohl ich manchmal welche gebrauchen könnte.

Wenn Sie eine hätten – was stünde denn darauf?

Ich würde sie neutral halten. Visitenkarten sollten nur das Nötigste über einen aussagen und nicht zu persönlich werden. Nur Name und Adresse sollten darauf stehen, sonst nichts.

Und nicht, dass Sie Schriftstellerin sind?

Nein, um Gottes willen. Schriftstellerin, das geht ja gar nicht. Das wäre ja total angeberisch. Obwohl es andererseits natürlich auch wieder eingebildet von mir ist, zu denken, dass das angeberisch wäre. Hm, kompliziert. Es hat anscheinend schon seinen Grund, warum ich keine Visitenkarten habe.

Hat es auch einen Grund, warum Ihre letzten Bücher alle in der Stofftier- oder Märchenwelt spielen? Einige Feuilletons murren schon, in der Zeit hat man Ihnen den „Verlust narrativer Originalität“ vorgeworfen, hier in der taz war die Rede von einem „Spielplatz, dessen Regeln die Komplexität unterlaufen“. Der Vorwurf zwischen den Zeilen ist hart, es geht um Eskapismus.

Die bewusste Entscheidung zum Eskapismus ist eine legitime und schöne Form, um dem Albtraum Realität hin und wieder zu entwischen. Man kann nicht immer die Welt retten, man muss auch mal Pause machen. Davon abgesehen, bin ich mir gar nicht so sicher, ob eine Geschichte, in der es um falsche Freunde, manipulierte Schuldgefühle und Selbstfindung geht, automatisch banal sein muss, bloß weil der Hauptdarsteller ein Stoffbär ist.

Wissen Sie schon, ob es mit Thomas Müller weitergeht? Und wenn ja, wie?

Nein, weiß ich nicht und wusste ich auch vor dem neuen Band nicht. Ich kann Bücher nicht gut planen, bei mir wachsen sie immer organisch.

Karen Duve: „Thomas Müller und der Zirkusbär“. Illustriert von Petra Kolitsch. Eichborn Berlin, Berlin 2006. 80 S., 9,95 €