„Deutsche Einheit? Gibt es gar nicht!“

Deutschland ist eine offene Gesellschaft geworden, sagt die Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek. Nun sei es an den Migranten, die Verpflichtung zur Freiheit anzuerkennen

INTERVIEW JAN FEDDERSEN

taz.mag: Frau Kelek, was ist Deutschland für Sie?

Necla Kelek: Meine neue Heimat.

Sie kamen als Elfjährige mit Ihrer Familie in die Bundesrepublik. Wie sahen Sie damals Ihre neue Heimat – und wie sehen Sie sie heute?

Aufgewachsen bin ich ja in einer traditionell türkischen Familie. Ich musste mir dieses Land erarbeiten, und zwar sehr langsam. Hier will ich leben und arbeiten. Möglichkeiten für ein gutes Leben – eine freie Luft zum Atmen, das fand ich gerade bei Konflikten in und mit meiner Familie immer spürbarer.

Was zählt für Sie zu einem guten Leben?

Wertvoll wird ein Leben, wenn ich das Recht auf freie Meinungsäußerung habe, wenn ich mir meine Lebensform selbst basteln kann. Ich sehe, dass zwei Drittel der Menschen auf der Welt diese Chance auf Freiheit nicht haben – eine, die durch den Staat geschützt wird. Diese Chance zu haben empfinde ich persönlich als unglaubliche Errungenschaft der Zivilisation.

Was sind Ihnen die drei kostbarsten Dinge, die es in Deutschland gibt?

Erstens dass ich meine Meinung sagen kann und dass ich für meine Auffassungen Menschen finde, die mir zuhören. Diese Lust auf Auseinandersetzung ist in Deutschland zu Hause. Und man findet Gleichgesinnte, die einem nicht nur höflich beipflichten, sondern miteinander diskutieren.

Auseinandersetzung – was heißt das für Sie?

Dass ich in Diskussionen immer wieder neue Aspekte zu hören bekomme, dass man mir widerspricht und man selbst etwas Gegenteiliges sagen kann. Das ist lebendig und tut gut.

Und neben der Meinungsfreiheit …

… ist mir meine persönliche Freiheit wichtig. In welcher Form von Liebesbeziehung möchte ich eigentlich leben? Mich nicht schämen zu müssen dafür, dass ich mittlerweile mit drei Männern gelebt habe und Beziehungen in die Brüche gegangen sind. Freiheit heißt für mich herauszufinden – und das ist anstrengend –, was ich will und was gut ist für mich.

Weshalb anstrengend?

Nicht überwiegend, aber der Preis der Freiheit ist auch, dass man sich nicht auf den Entscheidungen, die andere für einen treffen, ausruhen kann. Wenn die soziale Kontrolle nicht mehr strikt ist, dann fängt es an, dass man selbst Verantwortung für sein Leben und gegenüber der selbst gewählten Familie übernehmen muss. Es wird nicht mit dem Finger auf einen gezeigt, wenn man eine neue Beziehung gewählt hat.

Und das Dritte, das sie an Deutschland schätzen?

Dass es ein Land ist, wo alles funktioniert. Der Bus kommt, die Züge fahren – ich kann mich hier auf so vieles verlassen. Zuverlässigkeit. Das Wort zählt. Die Leute sagen nicht: Ach, du bist nett, ganz klasse, wollen wir nicht übermorgen da und da Kaffee trinken? Nein, in Deutschland sagt man das nicht so dahin, anders als in den südlichen Ländern Europas.

Wie empfinden Sie es dort?

Dort werden solche Sätze ganz oft einfach nur so dahergesagt. Wenn man dann klingeln würde und sagte, hallo, ich bin jetzt da, wären die Leute ganz baff. An diese Ehrlichkeit habe ich mich so selbstverständlich gewöhnt. Und die Städte! Alle sind so sauber, man kümmert sich um die Tiere, die Grünanlagen – man fühlt sich verantwortlich für den Raum, in dem man lebt.

Anfang der Neunzigerjahre gab es ein Pogrom gegen Ausländer im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen: symbolisch auch gegen Einwanderer, wie Sie eine waren. Wie haben Sie die deutsch-deutsche Atmosphäre damals empfunden?

Ich war genau zu jener Zeit in den Osten gegangen, um eine neue Arbeit zu beginnen. Ich fand die Wiedervereinigung großartig – und ich wollte unbedingt dort arbeiten, weil dieser Teil des Landes mir völlig fremd war. Ich kannte nicht mal Städtenamen wie Rostock. Stralsund? Hatte ich nie gehört.

Und Sie hatten überhaupt keine Freunde, die aus der DDR kamen?

Doch. Ein sehr guter Freund sagte mir plötzlich, er komme eigentlich aus Stralsund und sei dort geboren. Ich meinte, warum hast du mir das nie erzählt? Da meinte er, ach, das hat doch im Westen sowieso nicht interessiert. Außerdem wollte er einfach im Westen ankommen und nicht über die Vergangenheit sprechen.

Wie haben Sie die Wendezeit in Vorpommern erlebt?

Dort wie anderswo auch gab es immer die gleiche Differenz. Die einen schrieben den Spruch an die Wand, jetzt könne man endlich frei sagen, was man denkt. Aber gleichzeitig musste ich realisieren, dass die meisten vor allem ausländerfeindlich waren.

Das hat Sie überrascht?

Ja, tatsächlich. Das kannte ich aus Hamburg, überhaupt aus dem Westen nicht. Es gab in Greifswald Stadtteile, die ich, wenn es dunkel wurde, niemals allein betreten wollte. Bis heute würde ich das nicht machen. Das ist so. Ich will das nicht verallgemeinern, aber dass Ostdeutschland vom Rassismus lebt, das darf man dort fast nicht ansprechen.

Ist Deutschland rassistischer als andere Länder?

Was das angeht, teile ich Deutschland zwischen Ost und West. Im Westen ist auch dank der grünen Bewegung und der antirassistischen Initiativen vieles besser geworden. Im Westen werden Migranten geschützt. Wenn man aber in Rostock oder in Greifswald ankommt, stehen Neonazis dort unbehelligt herum. Und keiner sagt was. Niemand ruft die Polizei, keiner stört sich daran, dass diese Glatzköpfe diese schönen Städte hässlich grölen.

Trotzdem reden Sie über Deutschland fast wie über ein Paradies.

Ich meine natürlich den Westen, in dem ich groß geworden bin.

Haben Sie keine Hoffnung, dass sich im Osten etwas ändert?

Natürlich habe ich Hoffnung – ich möchte nur sagen, dass die politische Sensibilität im Osten noch schwach ist, auch wenn sie durch die NPD-Erfolge jetzt stärker wird. Nun spricht man darüber und muss es auch endlich tun – und das ist auch etwas, worauf ich mich eben in Deutschland verlassen kann: dass man über Missstände diskutiert.

Nochmals gefragt: Ist Deutschland rassistischer als andere Länder?

Nein. Als ich in England war, sagten meine Freunde dort, in ihrem Land gebe es keinen Rassismus, jeder lebe, wie er möchte. Mir kommt das wie ein Flickenteppich von Parallelgesellschaften vor, die sich nicht füreinander interessieren. Das ist nicht das, was ich möchte.

Was schwebt Ihnen vor?

Einmischung. Aller in alle gesellschaftlichen Angelegenheiten, um es mit Max Frisch zu sagen. Nicht ignorieren, nicht weggucken. Egal ob es um Obdachlose oder Arbeitslosigkeit geht. Das ist für mich Deutschland.

Träumen Sie auf Deutsch oder Türkisch?

Auf Deutsch.

Immer? Ihre Kindersprache war Türkisch.

Sobald meine Familie im Traum vorkommt, spreche ich mit denen türkisch. Neulich habe ich von meinem Vater geträumt, da habe ich mit ihm telefoniert, drei Jahre nach seinem Tod.

Was haben Sie ihm erzählt?

Ich habe ihm gesagt, warum hast du uns das alles angetan? Wenn du jetzt leben würdest, guck mal, wir haben doch alles gut gemacht, warum hast du uns nie anerkannt? Ich habe richtig mit ihm gestritten.

Haben Sie von Deutschland einen Traum?

Ich bin ja jetzt im migrationspolitischen Thema sehr drin: Ich träume davon, dass die Probleme, die es mit Migration gibt, auch durch die Migranten, nicht mehr verschwiegen werden.

Welche Probleme meinen Sie?

Ich spreche von Gewalt, Missbrauch, Inzest. Wenn es um traditionelle Deutsche geht, gibt es bei diesen drei Punkten kein Schweigen mehr. Aber …

vielleicht braucht es Zeit. Die alte Bundesrepublik spricht doch über diese Themen auch noch nicht lange.

Ich bin ja nicht so blauäugig zu sagen, Deutschland sei schon immer so gewesen, dass man über Gewalt in den Familien spricht. Aber da das jetzt Gott sei Dank so ist, gibt es keinen Grund, Migranten mit diesen Themen nicht zu konfrontieren – würde man das weiter tun, hieße das doch, sie nicht ernst zu nehmen.

Inwiefern wäre das so?

Nur gegenseitig sich multikulturell zu feiern und sich in Ruhe zu lassen, so wie in England, wäre eine Ausgrenzung der Migranten. Sich auf kulturelle Vielfalt herauszureden, ist keine Bereicherung Deutschlands, sondern Bequemlichkeit den neuen Bürgern und Bürgerinnen gegenüber.

Man wirft Ihnen vor, die Dinge zu verallgemeinern.

Das tue ich nicht. Ich arbeite mit Beispielen – und versuche, ehrlich zu sein. Türkischstämmige Lehrerinnen werfen mir vor, auf ihre Community ein schlechtes Licht zu werfen. Wenn man mir so etwas sagt, ist das keine Verallgemeinerung? Niemand regt sich drüber auf, wenn dauernd von fünf Millionen Arbeitslosen die Rede ist. Soll man künftig sagen, ach, das sind nicht so viele, die meisten haben doch Arbeit? Ich habe nie gesagt, dass Gewalt in den Familien der Migranten die Regel ist – aber es gibt sie, und zwar nicht nur selten.

Manche sagen, das seien traurige Begleiterscheinungen und geradezu Folgen des deutschen Rassismus.

Unfug. Mit dieser These wird ein Opferdasein untermauert – und damit lässt sich viel Geld vom Staat verlangen. Diese Selbstverständlichkeit, mit der immer verlangt wird, dass die deutsche Gesellschaft für alle Probleme aufzukommen hat, empört. Warum wird die Frage nicht umgedreht: Was kann ich als Einwanderer für Deutschland tun?

Zunächst einmal wollen sie wohl ein besseres Leben als in der Heimat, die sie verließen.

Darf denn nicht gefragt werden: Was tue ich diesem Land hier an, wenn das ganze Sozialsystem ausgehebelt wird? Eines, das zu den Reichtümern dieses Landes gehört.

Was meinen Sie konkret?

Wenn ich beispielsweise meine Kinder mit fremden Menschen aus der Türkei verheirate. Wie soll denn ein Abiturient mit einem kleinen Mädchen, das nicht lesen und schreiben kann, hier eine eigene Familie gründen und weiter kommen in der Gesellschaft? Damit wird doch nur weiter Armut produziert – weil ich meinen Clan zusammenhalten will und muss.

Sie werden sich mit diesen Antworten keine neuen Freunde in der multikulturellen Szene machen.

Solche Fragen müssen doch gestellt werden! Man nimmt diese Selbstverständlichkeit hin, abzuwarten, bis irgendeiner Geld bringt, staatliches Geld. Wie viel Geld kriegen wir, heißt es insgeheim. Das ist eine Erwartungshaltung, die kontraproduktiv ist – anstatt sich anzustrengen, in Deutschland eine neue Heimat zu begründen, eine deutsche Heimat.

Sind Namen wie Necla, Cigdem, Murat oder Gökhan mittlerweile deutsche Namen?

Ich glaube ja. Mein Name – wie die anderen auch – ist mittlerweile so üblich, dass niemand damit etwas Türkisches verbindet.

Was sagen Sie zu dem Vorwurf, Deutschland habe jahrzehntelang seine Einwanderer missachtet?

Ja, das stimmt, viel haben die Deutschen anfangs nicht gemacht, dass die Einwanderer sich mit diesem Land identifizieren können.

Ein Problem, das, so scheint es, endlich auch von konservativer Seite erkannt wird.

Richtig, aber es geht nicht um fremde Kulturen, die quasi Artenschutz genießen sollten. Nicht in dem Sinne, dass man Missstände in Kauf nimmt, von wegen: Na, die sollen machen, wie sie es wollen.

Weshalb legen Sie sich mit jenen an, die überhaupt für Rassismus und Ausländerfeindlichkeit sensibel sind – den Multikultis?

Nicht im Allgemeinen, dazu wurde es nur gemacht; ich kritisiere die Haltung, dass alle Kulturen gleich gut sind. Und weil ich den Streit mit denen führe, heißt das ja nicht, dass ich die andere Seite freispreche, um Gottes Willen.

Sie haben jedenfalls am sogenannten Einbürgerungsfragebogen des Landes Baden-Württemberg mitgearbeitet.

Nein, das habe ich nicht! Baden- Württemberg war für mich ein Bundesland, in dem gesagt wurde, man wolle keine Kopftuch tragenden Frauen an staatlichen Schulen. Das fand ich sehr gut. Als mich das Ministerium in Stuttgart anrief und sagte, man wolle jetzt bei der Einbürgerung Fragen stellen …

als eine Art Paschatest …

… fand ich die Idee erst einmal ganz gut.

Warum dieser Lebensstil-TÜV?

So war er nicht zu verstehen. Meine Motivation war, dass ich nicht gut fand, einfach zu sagen: Hier, hol mal deinen Pass ab. Ohne zu überprüfen, ob derjenige, der da Deutscher werden will, wirklich Deutschland als rechtsstaatliches, freies Land akzeptiert – so, wie es ist. Den späteren Fragenkatalog habe ich nicht mitvertreten. Ich hätte andere Fragen gestellt – in einem offenen Interview. Zum Beispiel: Wie kam es zu der Entscheidung, den deutschen Pass zu beantragen? Eine einfache Frage, um die herum man ein Gespräch hätte führen können. Um herauszuhören, wie jemand tickt.

Was hätte das bringen können?

Kürzlich hörte ich von einem deutschen Beamten, türkisch geprägt, der ist seit fast 20 Jahren Polizist. Vor ein paar Monaten hat er aus seiner Verwandtschaft ein Mädchen aus der Türkei nach Deutschland geholt. Die sitzt jetzt bei ihm zu Hause mit der Schwiegermutter, trägt Kopftuch, geht außer zum Einkaufen nicht an die Öffentlichkeit – und er ist draußen Polizist.

Und warum sollte er nicht? Auch ein Polizist kann so leben, wie er das für islamisch hält.

Ich glaube, dass dieser Polizist in der deutschen freiheitlichen Gesellschaft in Wirklichkeit nie angekommen ist. Er trennt präzise: Hier ist mein Job, dort meine islamische Privatheit.

Solche Abgründe tun sich womöglich überall auf – nicht nur in muslimischen Milieus.

Die Diskussion ist ja längst nicht beendet, meine Idee zum Einbürgerungstest war ausschließlich, dass der deutsche Pass nicht nur einfach geschenkt wird. Er verkörpert die Freiheit und den Rechtsstaat – und das Grundgesetz. Das aber ist mit religiösen Vorstellungen der Unterordnung der Frau nicht vereinbar.

Spüren Sie seit dem 11. September so etwas wie Islamophobie?

Mir ist dieser Begriff sehr fremd. Wer wird in diesem Land an der Ausübung seiner Religion behindert?

Jugendliche mit türkisch oder arabisch klingenden Namen haben auf dem Arbeitsmarkt geringere Chancen.

Wenn das stimmt, finde ich das natürlich schlimm. Doch ich schätze, viele Betriebe stellen Jugendliche mit türkischen Namen nicht deshalb nicht ein, weil sie Islamisten in ihnen erkennen wollen, sondern weil der Personalchef glaubt, dass er sich auf den Bewerber nicht wirklich verlassen kann. Er fragt sich vielleicht, wie viel muss ich investieren, dass ich was von ihm habe? Die schulische Qualität von vielen Migrantenkindern ist viel schlechter ist als bei deutschen Kindern – und viele Unternehmen machen sich nicht die Mühe, denen zu helfen. Aber nicht, weil man vor dem Islam Angst hat. Das glaube ich einfach nicht.

Verstellt die Diskussion um Missstände der Migrationspolitik nicht vielleicht den Blick darauf, dass Deutschland ein sehr erfolgreiches Integrationsland ist? Dass so viele türkischstämmige Menschen hier leben – ohne Kopftuch, ohne Gottesstaatfantasien?

Selbstverständlich. Meine Aufmerksamkeit gilt aber den Parallelgesellschaften, die sich gebildet haben – und in denen ein unbeschwertes traditionell-islamisches Leben geführt werden kann. Ich glaube, dass der Einfluss dieser Menschen wächst – und dass sie versuchen, jene, die hier in Deutschland angekommen sind und hier ihr Leben gut führen wollen, zu beeinflussen. Sie ertragen es ja nicht, dass die anderen sich hier so gut zurechtgefunden haben.

Aus Neid auf die Arrivierten?

Sicher auch, aber vor allem aus ihrem islamischen Glauben. Gläubige halten die Migranten, die um ihre Religion kein Aufhebens machen, für Ungläubige, die sie an die unreine Gesellschaft verlieren. Sie halten es für ihre Pflicht, diese Brüder und Schwestern zurückzugewinnen in die islamische Welt.

Gibt es nicht freundlichere Befunde? Berlins Kreuzberg steht doch für das Multikulturelle schlechthin.

Noch, ja. Aber ich bekomme gerade von dort Mails und Anrufe von Mädchen und Jungen, die mich fragen: Wissen Sie überhaupt, was hier los ist?

Was denn?

Dass bestimmte Moscheen auf der Straße Kinder rekrutieren, besonders Jungs. Die werden gefragt: Was treibst du dich auf der Straße herum, warum betest du nicht? Diese Islamisten klingeln an Haustüren und sagen, man sammle für eine neue Moschee, und dann fragen sie, wann man selbst das letzte Mal gespendet hat. Ich will damit sagen, dass die Migranten, die in Deutschland angekommen sind, stetig bedroht werden.

Welches sind Ihnen die drei schönsten Orte in Deutschland?

Erst einmal die Elbe in Hamburg. Diese Schiffe, die man beim Spazierengehen sieht, das Wasser – das hat mich all die Jahre in Hamburg begleitet. Ich werde fast wehmütig, wenn ich an diesen Fluss denke.

Vor einem Jahr sind Sie mit Ihrem Lebensgefährten nach Berlin gezogen. Zählt die Hauptstadt ebenfalls zu Ihren Favoriten?

Der Prenzlauer Berg, dieses Viertel ja. Diese Ruhe, diese vielen Cafés, diese Art des Begegnens auf der Straße, ohne Geschrei, ohne Menschenmengen, die sich gegenseitig fast treten müssen, um Platz zu haben und zu laufen. Aber ich würde als dritten Ort doch Berlin insgesamt nennen. Diese Vielfalt.

Zu der eben auch Kreuzberg zählt.

Ja, aber ich kann dort nicht mehr die türkische Kultur genießen, stattdessen finde ich dort eher diese Männergesellschaft repräsentiert. Das ist dort anders als zum Beispiel in Ottensen …

ein kreuzbergähnliches Viertel in Hamburg …

… und dieses Ottensen ist wirklich die Idee von Multikulturalität. Dort fühle ich mich auch mit meinen Landsleuten wieder sehr wohl. Straßen, auf denen nur Männer präsent sind, meide ich. Kreuzberg ist abends für mich eine Bedrohung.

Der 3. Oktober ist der Nationalfeiertag Deutschlands. Welche Gefühle verbinden Sie mit diesem Tag?

Vor allem überwältigende Erinnerungen. Als die Mauer fiel, war ich mitten drin im Wendetrubel. Ich wohnte damals in einer Wohngemeinschaft, in der ich Freunde hatte, die aus dem Osten kamen. Wir sind uns in die Arme gefallen, als die Grenzen offen waren und gleich mit dem Auto nach Ostberlin gefahren. Viele hatten ja Verwandte in der DDR – was für eine Freude, dass sie sich wiedersehen konnten.

Deutschland einig Vaterland – das sei nichts als eine Formel für eine neue Großmacht, hieß damals eine gängige Befürchtung.

Das habe ich nie gedacht. Wenn ich im Ausland bin, höre ich immer wieder: Auf Deutschlands Demokratie kann man sich verlassen. Sogar in Israel denkt man so. Auf die Frage, welche Soldaten würdet ihr am liebsten zum Schutz haben, nennen sie Deutschland. Deutsche Soldaten sind angenehmer im Umgang, haben eine andere Ausbildung.

Als wer?

Als amerikanische Soldaten, bestimmt. Das Bild von Deutschland ist viel besser als das Selbstbild der Deutschen.

Sind Sie stolz, eine Deutsche zu sein?

Mit dem Wort Stolz kann ich nicht viel anfangen. Ich bin dankbar und froh, hier in diesem Land zu leben.

Weil es deutsch ist?

Was soll deutsch heißen? Ich verbinde mit Deutschem nichts Einheitliches. Jeder denkt sich zu dem, was dieses Wort bedeuten kann, etwas anderes. Deshalb habe ich auch nie Angst vor Assimilation gehabt.

Assimilation bedeutet doch Anpassung an eine Kultur und die eigene Herkunft zu tilgen – Integration hingegen die Anerkennung verschiedener Herkünfte. Die jüdische Diskussion drehte sich Anfang des vorigen Jahrhunderts immer um die Frage, dass man sich, um deutsch zu werden, nicht mehr als jüdisch verstehen solle.

Begriffe müssen doch immer im Zeitkontext gesehen werden. Heute heißt doch Assimilation nicht mehr, sich etwas Deutschem unterwerfen zu müssen. Das geht doch gar nicht! Diese Gesellschaft bietet einen Reichtum der Arten von Deutschtum. Ich weiß gar nicht, wie eine Deutsche sich benimmt. Diese Einheit gibt es nicht.

Was bedeutet also Assimilation?

In diesem Land ankommen zu wollen – und nicht zu fragen, was es für einen tun kann, sondern sich anzustrengen, es zu einem besseren Land zu machen. Und das setzt voraus, die Vielfalt anzuerkennen, dass alles ständig im Fluss ist. Wenn Türken ihre Kinder zurückhalten, weil sie nicht wollen, dass er oder sie wie ein Deutscher, eine Deutsche wird, dann behindern sie sie.

Sie sind eben auch ein Teil dieser Vielfalt.

Eine Ausrede. Sie wollen ihre Familie zusammenhalten, ihren Clan, ihre kleine Heimat verteidigen – und sie nicht der frischen Luft der Freiheit aussetzen. Ihre Kinder sollen keine selbstständigen Individuen werden.

Empfinden Sie den 3. Oktober als eine deutsche Feier der Individualität?

Ja. Jeder denkt das anders, aber dieser Tag steht für mich für die Entscheidung zur Freiheit. Für Möglichkeiten, die ich sonst nicht gehabt hätte. Ich kann hier arbeiten, mich an allem beteiligen, kann mich für eine Sache entscheiden – oder auch nicht.

Worauf sind Sie stolz?

Auf meine Jahre im Osten. Ich war ja fast sieben Jahre in Greifswald. Eine lange Zeit. Ich habe am Aufbau Ost teilgenommen – darauf war und bin ich stolz.

JAN FEDDERSEN, 49, ist taz.mag-Redakteur und lebt seit zehn Jahren in Berlin-Neukölln