lidokino
: In der Gefühls-Achterbahn des Propagandafilms

Cristina Nord ist in Venedig, wo sich die diesjährige Retrospektive dem sowjetischen Unterhaltungskino widmet

Seit Marco Müller die Filmbiennale leitet, verschreiben sich die Retrospektiven den guilty pleasures der Filmgeschichte: den B- und Genrefilmen nationaler Kinematografien sowie solchen Werken, denen ein Hautgout anhaftet, weil sie Propagandazwecken dienten. In diesem Jahr ist das sowjetische Unterhaltungskino an der Reihe. Die ältesten der ausgewählten Filme, Grigori Aleksandrows „Wesjolye rebjata“ („Fröhliche Zeitgenossen“) und Igor Sawtschenkos „Garmon‘“ („Das Akkordeon“), entstanden 1934, ein Jahr nachdem die Kollektivierung der Landwirtschaft ihren Höhepunkt erreicht hatte. Der jüngste, Andrei Kontschalowskis „Romans o wljubljonnych“ („Eine Liebesgeschichte“) wurde 1974 gedreht. Was die Filme eint, sind ihr Unterhaltungswert und ihre Musikalität: Es wird so viel gesungen und getanzt, dass einem beim Zuschauen bisweilen schwindelig wird.

Das hat freilich nicht nur damit zu tun, dass die Tänzer in rascher Montage von links nach rechts und von rechts nach links durchs Bild wirbeln wie in Sawtschenkos „Garmon‘“. Auch das Wechselspiel von Propaganda und Subversion, das diese Filme auszeichnet, macht sie zu einer Achterbahnfahrt. „Garmon‘“ etwa stimmt unverhohlen das Lob auf die kollektivierte Landwirtschaft an. Rhythmisch fährt die Sense in den Weizen, hell strahlt die Sommersonne über den endlosen Feldern, reichlich schöpft die Kelle Suppe aus dem Topf. Nach getaner Arbeit tanzen die Bauern der Kolchose, und Timoschka, die Hauptfigur, spielt dazu das Akkordeon – bis er seine neue Position als Führer der örtlichen Kommunistischen Jugend zu ernst nimmt, als dass ihm das Musikinstrument ziemlich erschiene. Er verscharrt es in einem Heuschuber. Erst als Landstreicher – enteignete Bauern – auftauchen, die Mädchen bedrängen und den Wodka in Strömen fließen lassen, besinnt sich Timoschka: „Um diese Gauner zu bezwingen, braucht es keine Waffen.“ Es kommt zu einem Sängerwettstreit, bei dem das Liedgut der Kolchosbauern über das der Landstreicher siegt.

Nahe liegt, dass „Garmon“ eine Menge blinder Flecken hat. Nichts ist zu sehen von den Hungersnöten, die die Kollektivierung mit sich brachte, nichts von den Massendeportationen und -hinrichtungen der enteigneten Bauern, die als Kulaken geschmäht wurden. Was in „Garmon‘“ gefeiert wird, kostete mehrere Millionen Menschen das Leben, und das zu wissen macht den einfachen Genuss dieses Filmes, seiner wirbelnden Bilder und seiner stakkatohaften Montagen schwierig. Kurz denke ich: Was, wenn Marco Müller im kommenden Jahr zur Geheimgeschichte des deutschen Kinos bäte? Wenn „Tiefland“ in der kleinen Sala Volpi liefe, ohne dass im Katalog davon die Rede wäre, wo Leni Riefenstahl die Darsteller castete, nämlich im Konzentrationslager? Zugleich ist nicht zu übersehen, wie rückhaltlos „Garmon“ den Spaß, die Freude am Tanz und am Fest über den ideologischen Ernst stellt. Mit Getöse widersetzt sich Sawtschenko jeder lustfeindlich-bürokratischen Auffassung davon, was richtiger Kommunismus zu sein habe. Die Rezeption des Filmes fügte dem eine besondere Pointe hinzu: Nicht das progressive Lied der Kolchosbauern wurde zum Schlager, sondern das rückwärtsgewandte der Landstreicher: „Ich trauere um mein kleines Stück Land.“ Von der Konzeption der Propaganda bis zu ihrem gewünschten Effekt ist es eine weite Reise, und es kommt vor, dass sich unterwegs die Richtung ändert.

Andere Filme sind so delirant, dass sie beinahe Campqualität haben. Etwa „Tscherjomuschki“ von Gerbert Rappaport (1963). Tscherjomuschki ist der Name eines Viertels in Moskau, in dem die alten traditionellen Häuser baufällig sind, während ringsumher Plattenbauten hochgezogen werden. Frisch und verheißungsvoll schaut die Zukunft aus, weiß strahlen die Neubauten, die Kranführerin Ljuisa hat immer ein Lied auf den Lippen. Die pastellfarbenen Zimmer in den neuen Häusern harmonieren auf wunderbare Weise mit der Kleidung der Figuren und auch mit dem hellblauen Lidschatten, den die männliche Hauptfigur Boris aufgetragen hat. Von Korruption und Machtmissbrauch erzählt Rappaport en passant, zugleich ist sein Film wie besoffen von seinem sonnig-sozialistischen Zukunftsversprechen. Das passt ganz wunderbar zu einer These, die die in Zagreb geborene, in Amsterdam lebende Schriftstellerin Dubravka Ugrešić in ihrer Essaysammlung „Kultur der Lüge“ notiert hat: Der Faschismus bezieht seinen Kitsch aus der Vergangenheit, aus Scholle, Land und bäuerlichem Leben. Der Kommunismus bezieht ihn aus der Zukunft, aus den rechten Winkeln seiner Staudamm-, Straßen- und Wohnungsbauprojekte. CRISTINA NORD