„Verstehe nicht, warum er so lange schwieg“

Otto-Ernst Duscheleit erzählt seit Jahrzehnten, dass er in der Waffen-SS war. Grass habe einen Fehler gemacht, sagt er

taz: Herr Duscheleit, wie kamen Sie zur Waffen-SS?

Otto-Ernst Duscheleit: Ich war 17 Jahre alt und in einer Einheit des paramilitärischen Arbeitsdienstes. Da drohte unserer Einheit ein SS-Offizier: Wer sich nicht freiwillig zur Waffen-SS melde, komme an die Front – in ein lebensgefährliches Strafbataillon. Da habe ich mich gemeldet. Ich verstehe auch nicht, warum sich Günter Grass offenbar freiwillig gemeldet hat, nachdem es bei der Marine mit ihm nicht geklappt hat. Der Dienst in der Waffen-SS wurde ihm ja anscheinend nicht aufgezwungen.

Weil Sie krank wurden, kamen Sie nicht in die Waffen-SS-Division „Das Reich“, die etwa im serbischen Pančevo Kriegsverbrechen begangen hat. Aber Sie waren in der Waffen-SS-Division „Nordland“ und so an der Kriegsführung der „Verbrannten Erde“ in Osteuropa beteiligt. Fühlen Sie Schuld?

Ja, ich hatte Schuld insofern, als ich nicht den Mut hatte, dem zu widersprechen, als wir in Osteuropa russische Häuser in Brand schossen. Ich machte mir damals keine Gedanken darüber. Aber ich habe Schuld, und deshalb habe ich auch darüber geschrieben.

Auch Günter Grass war in seiner Waffen-SS-Division nicht an Kriegsverbrechen beteiligt. Glauben Sie, er hat dennoch Schuld auf sich geladen?

Ich weiß zu wenig über seine Einheit, die ja wohl zunächst sehr aufgerieben wurde, ehe sie mit vielen jungen Männern wie Grass wieder aufgefüllt wurde. Es ist zumindest nicht bekannt, dass diese Division dann noch schreckliche Dinge getan hätte.

Sie haben nach etwa 40 Jahren in den 80er-Jahren Ihr Schweigen über Ihre Zeit in der Waffen-SS gebrochen und berichten seitdem als Zeitzeuge etwa in Schulen darüber. Verstehen Sie, dass Grass 60 Jahre lang seine Waffen-SS-Geschichte verschwieg?

Das fällt mir schwer. Ich verstehe nicht, warum er so lange geschwiegen hat. Auch ich habe seit Mitte der 80er-Jahre noch einmal 20 Jahre gebraucht, bis ich ein Buch über meine Geschichte schreiben konnte. Aber er ist ein Schriftsteller, ich nicht.

Also bleibt Ihnen das rätselhaft?

Weil Grass Schriftsteller ist, wäre es wichtig gewesen, dass er früher darüber schreibt oder redet. Er ist ja offenbar ein mutiger Mann, aber es wird ihm schwergefallen sein, darüber zu sprechen. Auch mir fällt es nicht leicht, aber dennoch rede ich darüber, etwa in Schulen, weil ich es wichtig finde. Ich will damit etwas gutmachen. Und ich will damit andere motivieren, auch über ihre Schuld zu sprechen.

Diskreditiert dieses lange Schweigen von Grass ihn als moralische Autorität in der Bundesrepublik?

Ich möchte keinen Stab über ihn brechen. Ich finde es auch nicht richtig, dass etwa Lech Wałęsa ihn nun auffordert, seine Ehrenbürgerwürde von Danzig zurückzugeben. Jeder macht Fehler. Aber es war Grass’ Fehler, seine Geschichte so lange verheimlicht zu haben.

Spüren Sie so etwas wie Mitleid mit Grass, weil er die Geschichte so lange mit sich herumschleppte, oder eher Verachtung, weil er die Geschichte so lange verschwieg?

Eher Mitleid, keinesfalls Verachtung. Ich kann ihn nicht verachten, obwohl es nicht richtig war, dass er seine Geschichte so lange verschwieg.

Sie engagieren sich, als eine Lehre aus Ihrer Geschichte, in der Friedensbewegung. Finden Sie, dass Grass die richtigen Lehren aus seiner Geschichte gezogen hat?

Eine Antwort fällt mir schwer. Aber vielleicht hätte er doch mit dieser Geschichte in die Öffentlichkeit und in die Schulen gehen sollen. Er hätte eine andere Autorität gehabt.

INTERVIEW: PHILIPP GESSLER