Es ist … ein Lehmann!

Jürgen Klinsmann kürt Jens Lehmann zur Nummer eins. Doch nach der Entscheidung für den Arsenal-Keeper gerät der Bundestrainer erst recht in die Mühlen deutscher Fußballmachtpolitik, die er mit der Ausschreibung des Postens meiden wollte

VON DANIEL THEWELEIT
UND THOMAS WINKLER

Es ist weiterhin ein Rätsel, was Jürgen Klinsmann sich dachte, als er den Wettbewerb um den Platz in seinem WM-Tor zwischen Amtsinhaber Oliver Kahn und Herausforderer Jens Lehmann ausrief. Wollte er von anderen Baustellen ablenken? Ging es ihm tatsächlich darum, den Besseren zu identifizieren? Wollte er verhindern, dass die Bild-Zeitung mit Kahn einen „embedded“ Störenfried im Nationalteam hat, und Kahn durch die unklare Situation zum Schweigen bringen? Oder gab es noch undurchschaubarere Gründe?

Klar ist nur eins: Die Situation war eskaliert. So sehr, dass Klinsmann am gestrigen Freitag sich nun endgültig entschied. Um 14:53 Uhr schickte AP die Eilmeldung mit Priorität in die Welt: Dem 36-jährigen Lehmann wird der Posten im Tor der deutschen Fußballnationalmannschaft während der Weltmeisterschaft im eigenen Land anvertraut.

Dem Bundestrainer, so ließ der nach der Entscheidung wissen, war der öffentliche Druck zu groß geworden. Weswegen er die „schwierigste Entscheidung meiner Amtszeit“ schließlich nicht erst, wie geplant, Anfang Mai traf, sondern bereits gestern bei einem Krisengipfel in München, zu dem er seinen Stab einberufen hatte. Anschließend hatte er sich mittags mit Kahn getroffen, um ihm die für ihn negative Entscheidung mitzuteilen. Der wiederum ließ über eine Pressemitteilung verlauten, er sei „sehr überrascht und maßlos enttäuscht“. Über einen Rücktritt aus dem Nationalteam werde er sich „zu gegebener Zeit“ äußern.

Spätestens seit Kahn derart übermotiviert war, dass er verletzt spielte, um dann zu halten wie ein Landesligatorwart, und seit Oliver Bierhoff als TV-Experte für Sat.1 in einem Interview mit Lehmann als zensierende Instanz auftrat und so jede journalistisch berechtigte Frage abwürgte, war klar, dass eine schnelle Lösung hermusste. „Irgendwann muss Schluss sein“, forderte auch Bayern-Manager Uli Hoeneß immer lauter. Auch Lehmann war sein Unbehagen in besagtem Interview überdeutlich anzumerken – keinem der beiden Torhüter schien noch wohl in seiner Haut. Und das konnte auf keinen Fall in Klinsmanns Interesse liegen.

Im Grunde spiegelte die zur paradigmatischen Entscheidung hochgejazzte Torwartfrage all die Probleme, die Jürgen Klinsmann vor dieser WM zu bewältigen hat, denn das Sportliche war auch in dieser Frage nur zweitrangig. Klinsmann galt einst als Reformer, muss sich seit Monaten gegen die konservative Herrscherklasse des deutschen Fußballs behaupten, von allen Seiten wird Druck ausgeübt, welche Spieler zum Kader gehören sollen, welches der richtige Spielansatz ist. Und nach der Entscheidung für Lehmann kann Klinsmann sich bereits für die nächste Welle der Empörung rüsten.

Selbst der vergleichsweise zurückhaltende Berliner Tagesspiegel schrieb jüngst treffend: „Eine Entscheidung gegen Oliver Kahn, das bedeutet in Deutschland: gegen die Bild-Zeitung, gegen Franz Beckenbauer, gegen den FC Bayern, gegen das Votum von Kapitän Michael Ballack, gegen die Klientel der Traditionsfans, gegen die öffentliche Erwartung im In- und Ausland und gegen die Fans im Münchner Eröffnungsspiel.“ Trotzdem und auch gegen die pro Kahn polemisierende Bild-Zeitung schien die öffentliche Meinung zuletzt in Richtung Lehmann umzuschwenken: Bei – natürlich gemeinhin nicht allzu repräsentativen – Umfragen hatte der Keeper des FC Arsenal zuletzt immer öfter Kahn hinter sich gelassen.

Nun bleibt abzuwarten, welche Folgen diese Wahl für Klinsmann selbst hat. Die Entscheidung gegen Kahn könnte dazu führen, dass der ausgemusterte Titan während der WM ständig im Fokus der Medien steht. Vermutlich wird er zurücktreten und dann von Mikrofon zu Mikrofon laufen, um Analysen des Klinsmann’schen Fußballelends in die Welt zu setzen. Das kann der Bundestrainer unmöglich wollen. So steckt er jetzt genau in jenen Mühlen deutscher Fußballmachtpolitik, die er mit der Öffnung der Torwartfrage eigentlich meiden wollte.