Die pragmatischen Rebellen

Der junge Politologe Matthias Micus hat die Aufstiegsgeschichte von Willy Brandts politischen Enkeln verfolgt. Seine Erkenntnisse lesen sich wie ein Lehrbuch für angehende Politiker

VON ALEXANDER CAMMANN

Die Wahl war zweifellos ein Triumph für den Sozialdemokraten. Bei der entscheidenden Abstimmung erhielt er im Plenum gleich im ersten Wahlgang eine überwältigende Mehrheit: Rudolf Scharping wurde im März 2005 in Saarbrücken zum Präsidenten des Bundes Deutscher Radfahrer gewählt, Kanzler Gerhard Schröder schickte umgehend ein Glückwunschtelegramm.

Ein halbes Jahr später sieht es ganz danach aus, dass der einst über Pool-Planschereien gestürzte Ex-Bundesverteidigungsminister als einziger seiner sozialdemokratischen Generationsgenossen sein veritables Spitzenamt auf Dauer behält. Immerhin: Noch kämpft sein Intim-Feind Schröder um eine Gnadenfrist im Kanzleramt. Und Ruheständler Lafontaine, der Scharping in Mannheim 1995 über Nacht als Parteivorsitzender stürzte, will jetzt mit Gysis Postkommunisten im Bundestag die Millionäre wie sich selbst schröpfen. Doch die Zeit von Willy Brandts politischen Enkeln ist endgültig abgelaufen. Ihre Historisierung kann also beginnen.

Der junge Göttinger Politikwissenschaftler Matthias Micus wollte genauer wissen, was es mit den „Enkeln“ auf sich hat, den Protagonisten jener vorerst letzten großen identitätsstiftenden Erzählung der SPD. Fünf von ihnen hat er betrachtet: Björn Engholm, Oskar Lafontaine, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Gerhard Schröder und Rudolf Scharping. Sie alle konnten sich seit den Achtzigerjahren „Enkel“ Willy Brandts nennen: Der SPD-Führer hatte mit dieser semantischen Nobilitierung einiger junger Genossen die Zwischengeneration der Hans-Jochen Vogels und Johannes Raus geschickt von der Macht fernhalten wollen.

Dabei hätten die „Enkel“ de facto eher die Söhne Willys sein können, aber durch den „Enkel“-Begriff glaubte man offenbar, den allfälligen Vater-Sohn-Konflikten wenigstens terminologisch zu entgehen. Der Autor irrt übrigens, wenn er politische „Enkel“ als eine innerparteiliche Formulierung deutet: schließlich hatte sich auch Helmut Kohl einst als Enkel Adenauers empfohlen.

Micus konzentriert sich auf die kindlichen und familiären Prägungen seiner fünf Genossen und auf deren erste Politikerfahrungen bei den Jungsozialisten und in der SPD der Sechziger- und Siebzigerjahre. Danach beleuchtet er die unterschiedlichen Strategien, mit denen sie es im Laufe ihrer Politikerkarriere bis in erste hohe Ämter gelangten. Ob Lafontaine gegen Helmut Schmidts Nachrüstung zu Felde zieht oder die „rote Heidi“ vor dem US-Imperialismus warnt: Micus beschreibt minutiös die Konfliktstrategien, mit denen sich die „Enkel“ innerparteilich durchbeißen.

Früh schon begreifen diese sozialdemokratischen Aufsteiger, dass sie ihr Weg über die Länder führen muss, um irgendwann an die Spitze zu gelangen. So wechselt etwa der Bundestagsabgeordnete Schröder nach Niedersachsen und Björn Engholm, der Bildungsminister im letzten Kabinett Schmidt, nach Schleswig-Holstein.

Beides, die Konfliktfähigkeit sowie der gezielte Aufbau einer Hausmacht in den Ländern, ist ihr Erfolgsrezept – das jüngere Genossen wie die so genannten Netzwerker heute sträflich vernachlässigen. Es sind vielmehr die einstigen „jungen Wilden“ in der Union, die Jungunionisten vom „Andenpakt“, die den Werdegang der sozialdemokratischen „Enkel“ kopieren. Roland Koch, Peter Müller, Christian Wulff und Co. provozierten früh Kanzler Kohl, um dann nach und nach die Bundesländer zu erobern. Heute ist ihr Weg ins Kanzleramt – trotz Angela Merkel – vorgezeichnet.

Micus’ spannende und verdienstvolle Studie ist eine wahre Fundgrube für die SPD-Geschichte der Siebziger- und Achtzigerjahre, vor allem wegen der intensiv ausgewerteten Tages- und Wochenpresse. Weniger überzeugend ist die starke Betonung der „primären Prägungen“ seiner Helden: Kindheitserfahrungen dürften im innerparteilichen Machtkampf eine viel geringere Rolle gespielt haben, als es die journalistischen Porträtkünstler der großen Journale Glauben machen wollen.

Weniger modische Generationenpsychologie, mehr strenge Parteiensoziologie wäre hilfreicher, um den Aufstieg von Schröder, Lafontaine und Co. zu erklären: der Wandel der Mitgliederstruktur in ihrer Zeit, die Unterschiede und Ähnlichkeiten zu den tausenden Mitstreitern ihrer Generation bei den Jusos und in den Landesverbänden, der Dschungel von Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen und konservativem Seeheimer Kreis oder den namenlosen resistenten Unterbezirkssekretären, die sich auch später von Schröder nie wirklich etwas sagen ließen.

Problematisch bleibt die – pragmatisch verständliche – Konzentration des Autors auf die Aufstiegsphase dieser fünf Sozialdemokraten bis zum Erreichen der Spitzenämter in den Ländern. Denn erst eine Ministerpräsidentschaft prägt den erfolgreichen Spitzenpolitiker entscheidend. Sie dürfte auch für dessen Politikstil wichtiger sein als alle Sozialisationsphasen, weil erst diese Funktion innerhalb der Volksparteien fit macht für die Klettertour auf den „Achttausender“ (Joschka Fischer). Die Ausnahme Helmut Schmidt bestätigt die Regel. Doch eine romantische Geschichte ist es allemal, die Micus erzählt: von Siegen und Niederlagen, von Rebellion, Aufstieg und dem Willen zur Macht – ein Lehrbuch für Nachwuchspolitiker.

Matthias Micus: „Die ‚Enkel‘ Willy Brandts. Aufstieg und Politikstil einer SPD-Generation“. Campus Verlag, Frankfurt/New York 2005, 235 Seiten, 29,90 Euro