„Al-Qaida ist kein Netzwerk mehr“

Es gibt eine gemeinsame Rhetorik islamistischer Ideologie, doch die angebliche Terrororganisation ist heute eher zum Label geworden. Der Anti-Terror-Kampf braucht die Unterstützung moderater Muslime – und eine andere Außenpolitik

taz: Herr Burke, nach vier Jahren „Krieg gegen den Terror“ ist es islamischen Extremisten immer noch möglich, gut geplante Anschläge in westlichen Innenstädten durchzuführen. Gibt es kein Mittel, der heiligen Krieger Herr zu werden?

Jason Burke: Es gibt auch positive Tendenzen. Es gibt deutliche Zeichen, dass die Unterstützung schwindet, die die Dschihadisten in der breiten muslimischen Bevölkerung hatten. Das ist eine direkte Folge der Brutalität der jüngsten Terroranschläge, die die Muslime ebenso abstößt wie alle anderen Menschen auch.

Gilt das für die mehrheitlich muslimischen Staaten ebenso wie für die muslimischen Minderheiten im Westen?

Die muslimischen Communities im Westen sind anders. Nehmen wir die britische: Sicherlich sind die meisten Muslime nicht völlig in die Gesellschaft integriert, aber sie haben auch eine britische Identität, sie haben einen Sinn für britische Kultur. Umso schärfer ist aber das Gefühl der Entfremdung, wenn einen die Mehrheitskultur zurückweist.

Gibt es aber nicht einen globalen muslimischen Zorn?

Sicherlich gibt es gemeinsame Haltungen gegenüber dem Irakkrieg, dem Nahostkonflikt. Man kreidet dem Westen an, dass er mit unterschiedlichen Standards misst, dass er arabische Diktatoren unterstützt. Aber man soll das nicht übertreiben. Eine 85-jährige Großmutter in Wien ist einer 85-jährigen Großmutter in Lahore ähnlicher als einem 16-jährigen Teenager in Linz. Religion ist also nicht alles: Ein Pakistaner hat beispielsweise wenig Zugang zum Zusammengehörigkeitsgefühl der Araber.

Hat sich unter den jungen Militanten ein globaler Widerstands-Islam entwickelt?

Es gibt eine gemeinsame Sprache, die Rhetorik radikaler islamistischer Ideologie. Aber es gibt weder eine einheitliche islamische Gemeinschaft noch eine vereinheitlichte globale terroristische Gruppe. Al-Qaida ist mehr ein Label, Chiffre für eine Art von Praxis, ganz sicher kein organisiertes Netzwerk mehr. Die Militanten sind in der Regel Leute, die entweder gerade vom Land in die Stadt gezogen oder zwischen Städten, zwischen den Kulturen herumgewandert sind. Diese Entwurzelung ist offenbar der fruchtbare Boden islamischer Militanz.

In den traditionellen islamischen Milieus sind die Militanten aber nicht isoliert. Ändert sich das nun?

Es gibt innere Konflikte, die nahezu jeder Muslim durchlebt. Sie mögen die Bomben nicht, es gefällt ihnen nicht, dass unschuldige Menschen ermordet werden, und es verwirrt sie, dass das alles im Namen des Islam getan wird. Gleichzeitig gefällt ihnen, dass irgendjemand eine Botschaft des Widerstands gegen die Politik des Westens verbreitet, dass es Muslime gibt, die sich nicht nur ducken, sondern zurückschlagen. Angesichts des weit verbreiteten Gefühls, als minderwertig betrachtet zu werden, des Gefühls stetiger Demütigung, hat das für viele einen gewissen Appeal. Wir müssen diesen inneren Konflikt verstehen und nützen, wenn wir dafür sorgen wollen, dass die Extremisten isoliert werden. Das ist möglich. Denn die meisten Muslime sind humanistische und vernünftige Leute.

Das heißt: Sie mögen den antiimperialistischen Aufstand – aber ohne Verletzte?

Ja, so könnte man das sagen. Allerdings: Wenn amerikanische Soldaten verletzt oder getötet werden, macht das den meisten Muslimen wohl nichts aus. Aber sie finden es falsch, wenn Zivilisten zu Opfern werden.

Mit Anschlägen wie in London oder Madrid zerstören sich die Extremisten also ihre eigenen Unterstützermilieus?

Man kann das mit der Geschichte der Islamisten in Algerien vergleichen. Sie waren anfangs populär. Doch dann wurden ihre Anschläge immer brutaler, und sie verloren an Unterstützung. Deshalb war es den Sicherheitskräften am Ende möglich, sie zu besiegen. Ich denke, etwas Ähnliches kann auf globaler Bühne auch geschehen. Aber nur, wenn der Westen versteht, dass es grundsätzliche Frustrationen gibt, die der Extremismus zu nützen vermag.

Wird die Mehrheit der moderaten Muslime in Westeuropa mit der Polizei zusammenarbeiten, um Extremisten in ihrer Community auszuschalten?

Das passiert schon. Die britische muslimische Community war und ist extrem hilfsbereit im Kampf gegen die Extremisten. Ohne diese Hilfe wüsste die Polizei gar nichts über die Szene. Und wenn sich die Politik des Westens bemüht, die Unterstützung der moderaten Muslime zu gewinnen – anstatt sie durch Provokationen abzustoßen –, wird diese Hilfe noch zunehmen.

Heißt all das, der Kampf gegen die Dschihadisten muss von den moderaten Muslimen gewonnen werden und wir haben kaum Einfluss darauf?

Nein. Wir müssen unsere Politik ändern. Unsere Außenpolitik, aber auch unsere Integrationspolitik. Wir können etwas tun, damit sich die Mehrheit der Muslime nicht mehr gedemütigt fühlt. Wenn wir aber das alles geschafft haben, dann ist es tatsächlich die Sache der moderaten Muslime, den Kampf gegen die Extremisten zu gewinnen.

INTERVIEW: ROBERT MISIK