Lang ersehnter Sieg für Chemiekranke

Wichtige Änderung bei der Anerkennung von Berufskrankheiten: Ein heftig umstrittenes Merkblatt der Bundesregierung ist umgeschrieben, wissenschaftliche Erkenntnisse sind endlich korrekt wiedergegeben. Amtlich veröffentlicht wird es im März

VON REINER METZGER

Ein schon jahrzehntelanger Kampf von Chemiekranken hat sich gelohnt. Eine wichtige Hürde für die Anerkennung der entsprechenden Berufskrankheit ist jetzt beseitigt: Das Merkblatt für die Berufskrankheit mit der Nummer 1317 wird in wesentlichen Teilen umgeschrieben und an den aktuellen Stand der Wissenschaft angepasst. Das bestätigte das Bundesgesundheitsministerium gegenüber der taz. Es werde „voraussichtlich in der März-Ausgabe des Bundesarbeitsblattes“ veröffentlicht, so ein Sprecher des Ministeriums.

Es geht um eine der häufigsten Umwelterkrankungen, so die Einschätzung von Experten. Mit der neuen Kriterienliste sollte es für Ärzte wesentlich leichter sein, eine Erkrankung des zentralen Nervensystems nach dem Kontakt mit chemischen Lösungsmitteln zu erkennen. Außerdem rechnen Betroffene damit, dass es nun den zuständigen Berufsgenossenschaften schwerer fällt, vor Gericht die Rentenansprüche Betroffener abzulehnen. Bisher erhalten trotz tausender jährlicher Erkrankungen nur etwa ein Dutzend Menschen pro Jahr eine Rente.

Konkret geht es um das „Merkblatt zur Berufskrankheit 1317“, der „Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische“. Bei diesen Krankheiten wird das Nervensystem durch Lösungsmittel geschädigt. Weil so die zentrale Steuerungsinstanz des Körpers durcheinander gerät, können eine Vielzahl von Symptomen auftreten. Häufig sind Magen-Darm-Erkrankungen, allergische Schocks sowie Schädigungen von Herz und Lunge. Auch das Gehirn ist betroffen: von Aggressionen über Vergesslichkeit bis zu Lähmungen der Gliedmaßen.

Wegen des breiten Spektrums an Symptomen ist eine genaue Abgrenzung zu anderen Krankheiten wie etwa Alkoholismus notwendig. Hier waren in der bisherigen Fassung des Merkblatts irreführende Kriterien aufgeführt, die außerhalb der offiziellen deutschen Arbeitsmedizin von niemandem vertreten wurden. So hieß es etwa, dass sich bestimmte Krankheitssymptome zwingend wieder zurückbilden, wenn der Patient den Lösungsmitteln nicht mehr ausgesetzt sei. In der neuen Fassung steht das Gegenteil – im Einklang mit der gängigen Wissenschaft. Nun wird sogar von Krankheitsverläufen berichtet, „bei denen es 2–3 Monate nach Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit zu einer Verschlechterung der Bewegungsfähigkeit kommt“.

Solche Verschlechterungen nach der Aufgabe ihrer Arbeit entsprechen häufigen Erfahrungen von Erkrankten, führten aber bei Anträgen an die Berufsgenossenschaft und vor Gericht bisher häufig dazu, dass eine berufsbedingte Erkrankung ausgeschlossen wurde – mit Verweis auf das amtliche Merkblatt.

Dass das Merkblatt überhaupt umgeschrieben wurde, ist vor allem das Verdienst der Initiative kritischer Umweltgeschädigter (IkU). Der gemeinnützige Verein fordert seit Jahren, „das wissenschaftlich unhaltbare Merkblatt“ zu ersetzen, und zeigte sich gegenüber der taz hoch erfreut über die Neufassung.

„Wir werden uns aber nicht auf diesem Erfolg ausruhen“, so Peter Röder vom Vorstand der IkU. Denn nun will die Initiative zum Beispiel Software für Ärzte erarbeiten. Damit sollen diese dann einen vorgefertigten Weg zur Diagnose lösungsmittelbedingter Krankheiten in die Hände bekommen. Einziges Problem dabei: Die IkU ist dringend auf Spenden angewiesen, weil die Konten nach den Recherchen zur „BK 1317“ leer sind.

Alter und neuer Text des Merkblatts und Infos zur IkU unter www.rheinland-umwelterkrankungen.de

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