Die Stunde des Patrioten

Der Politikwissenschaftler Samuel Huntington hat einen neuen Feind: die Latinos. Sein Buch „Who we are“ ist eine CSU-kompatible Kampfschrift gegen die multikulturelle Gesellschaft

VON JÜRGEN GOTTSCHLICH

Samuel Huntington hat Angst. Die Latinos übernehmen die Macht in Floridas Metropole Miami. Ein Weißer, nicht Spanisch sprechender Amerikaner bekommt in dieser kubanischen Hochburg keine Chance mehr. Die protestantischen Angelsachsen, der Kern von Huntingtons Amerika, hat Miami angeblich schon aufgegeben. Selbst der altehrwürdige Miami Herald, einst eine Größe im amerikanischen Journalismus, ist gezwungen, eine Ausgabe in spanischer Sprache herauszubringen. Sonst könnte er nicht überleben.

Und was tun die Politiker? Verhalten sich rein opportunistisch, umgarnen ihre Wähler, indem sie beginnen, spanisch zu sprechen. Genauso wie die Bastionen des amerikanischen Kapitalismus: die Konzerne. Vor dem Zweiten Weltkrieg verpflichteten sie ihre Migranten-Arbeiter noch zu englischen Sprachkursen und trugen so zu ihrer Assimilation bei. Heute begnügen sie sich damit, ihre Produkte auch in Spanisch anzupreisen. Die spanische Landnahme US-Amerikas ist in vollem Gange. Und das beklagt Huntington auf über 500 Seiten in seinem neuen Buch „Who we are“.

Er macht sich zum Sprecher der angeblich vernachlässigten amerikanischen Mehrheit, die einen „gesunden angloprotestantischen Nationalismus“ jeder anderen Form der staatlichen Definition vorzieht. Auf keinen Fall will er ein multikulturelles Amerika, ein Amerika, dessen Grenzen fließend sind und das sich – so eine der Obsessionen vieler Republikaner – demnächst in einen Teil der Vereinten Nationen auflöst. Nein, Amerika muss der Staat der Gründerväter sein: weiß, protestantisch, mit einem aus England abgeleiteten Verständnis von Recht und Ordnung, garniert mit der Vision, das auserwählte Volk zu sein.

Immerhin: Huntingtons Analyse ist durchaus korrekt. Der Charakter von Einwanderung hat sich stark verändert. Menschen können in ein anderes Land gehen, um dort zu arbeiten und zu leben, aber ihrem Ursprungsland eng verbunden bleiben. Telefon, Flugzeuge und Satellitenfernsehen machen es möglich. So können sie in zwei Ländern, womöglich in zwei Kulturen leben. Was er am Beispiel der lateinamerikanischen Einwanderung in die USA beschreibt, trifft genauso auf die Einwanderung aus Nordafrika und der Türkei nach Westeuropa zu. Huntingtons Klagen über die Latino Communities erinnern deutlich an das Lamento des CSU-Hardliners Günther Beckstein über die türkische Parallelgesellschaft in Deutschland:

Die Einwanderer schotten sich ab, wollen nicht mehr die Landessprache lernen und bewegen sich vom Frühstückscafé über ihre Arbeitsstellen bis hin zu ihren Begräbnisinstituten in ihrer eigenen Gemeinschaft. Insofern agitiert Samuel Huntington wie einst in „Kampf der Kulturen“ wieder gegen ein Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen und unterschiedlichen Glaubens.

Doch anders als damals, als er sich damit begnügen konnte, den Islam als neuen Feind nach dem Kommunismus zu definieren, hat er nun ein neues Problem: Der Feind ist im Wege der friedlichen Landnahme schon da. Diese Landnahme konnte nur in der Folge der Globalisierung stattfinden, und deshalb ist Huntington, obwohl er sich nicht explizit dazu äußert, ein Gegner der Globalisierung. Er hält der US-Wirtschaftselite vor, dass sie infolge der Globalisierung kosmopolitisch denkt und damit den Kontakt zum Volk, seinem Volk jedenfalls, verloren hat. Die Eliten verraten laut Huntington die Identität Amerikas, eine Identität, die sich auf den Gründungsmythos der Siedler im 17. und 18. Jahrhundert bezieht.

Huntington hat damit das gleiche Problem wie Beckstein auch. Seine Gesellschaft ist statisch, isolationistisch und kann deshalb letztlich nur in Abschottung von der übrigen Welt leben. Das aber, und das weiß Huntington natürlich, ist unter normalen, friedlichen Umständen kaum mehr möglich. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt kann nicht einfach mehr ungeschehen gemacht werden. Die wirtschaftliche Entwicklung ist über seine Vorstellungen längst hinweggegangen.

Widerstand dagegen ist letztlich irrational, und deswegen wird die Religion, wie Huntington durchaus begeistert feststellt, weltweit zum stärksten und wachsenden Bollwerk der Reaktion. Es ist geradezu bedrückend, von Huntington begeistert vorgeführt zu bekommen, mit welcher Geschwindigkeit die Zahl der christlichen Fundamentalisten, die gegen die Wissenschaft die biblische Schöpfungsgeschichte und gegen die Veränderungen in der Welt ihre christlichen Werte hochhalten, zunimmt. Doch allein das würde wohl nicht reichen, die weltweite Entwicklung wirklich wieder zurückzudrehen.

Wie ein Stoßgebet beginnt das Buch deshalb mit einer begeisterten Beschreibung der amerikanischen Flaggenparade in den Monaten nach dem 11. September 2001 in Boston. Hier, wo seit Jahren niemand mehr stolz die Stars and Stripes vor die Tür gehängt hatte und selbst die Post darauf verzichtet hatte, Flagge zu zeigen – hier besannen sich die Leute darauf, was sie zuallererst sein sollten: amerikanische Patrioten.

Für Huntington war der Angriff auf die Twin Towers ein Befreiungsschlag. Zunehmender weltweiter religiöser Fundamentalismus und andauernder, möglichst die kommenden Jahrzehnte bestimmender „Krieg gegen den Terror“ sind die beiden Komponenten, die es braucht, um das Rad der Geschichte zurückzudrehen, die Welt wieder in abgeschottete Gebiete aufzuteilen, Wissen unter Religionsvorbehalt zu stellen und der weltweiten Reaktion zum Durchmarsch zu verhelfen.

In Europa hat der 11. September glücklicherweise nicht dieselbe Durchschlagskraft gehabt wie in den USA. Europa hat noch nicht das Gefühl, es befände sich im Kriegszustand. Und Europa ist, wie Huntington bedauernd feststellt, eine Insel der Säkularität. Trotzdem gewinnt auch in Europa die „Wer sind wir“-Debatte an Fahrt. Einer der Katalysatoren dieser Debatte ist der mögliche Beitritt der Türkei zur EU. Hier wird sich zeigen, ob Europa eine andere Antwort auf die globalen Herausforderungen hat als das Amerika von Bush und Huntington.

Samuel P. Huntington: „Who we are. Die Krise der amerikanischen Identität“. Aus dem Engl. v. Helmut Dierlamm u. Ursel Schäfer, 540 Seiten, Europa Verlag, Hamburg 2004, 29,90 Euro