Verkehr mit Worten

Wo die Literatur der Liebe Nahrung ist: Sebastian Nübling inszeniert Shakespeares „Was ihr wollt“ im Schauspiel Hannover. Das Schloss auf der Insel Illyrien, das ist hier eine große Bibliothek, deren Bewohner süchtig nach Liebesgeschichten sind

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Dies ist ein Spiel der Spiegelungen: Symmetrien, die länger im Gedächtnis bleiben als alles andere aus Shakespeares Komödie „Was ihr wollt“. Das beginnt mit dem Zwillingspaar Viola (Katharina Lorenz) und Sebastian (Mirko Lang), die sich im Schiffsuntergang verloren haben und beide mit androgyner Zartheit ihre neuen Freunde bezaubern. Viola verdoppelt (oder spaltet) sich und wird als Cesario Bote von Herzog Orsino. Gräfin Olivia (Anne Ratte-Polle) und Herzog Orsinio (Clemens Schick) sind nur in der Alliteration ein Paar, denn so sehr er sie will, sie will ihn nicht. Wie Zwiddeldum und Zwiddeldei aus „Alice hinter den Spiegeln“ springen Tobias von Rülp (Tim Porath) und Ritter Bleichenwang (Peter Knaack) durchs Bild, pleite beide und deshalb sehr um eine Verheiratung Olivias mit Bleichenwang besorgt.

Doch nicht nur die Figuren, auch die Szenen bilden ein Ornament aus Wiederholungen und Umkehrungen. Die große Bibliothek, die am Anfang aus der Erde hochfährt und mit ihren Wänden aus Büchern das Schloss des Inselreichs Illyrien bildet, versinkt am Ende wieder im Boden. Diese eine große Bewegung des Bühnenbilds von Muriel Gerstner schafft der Inszenierung von Sebastian Nübling im Schauspiel Hannover einen wunderbar leichten und doch auch unmissverständlich wortlastigen Rahmen: Das ist nicht nur eine Metapher für das Theater selbst, dass alles hier aus Sprache und Literatur geboren ist. Auch die Liebe wird zelebriert als ein Schein, der ohne die ständige Nahrung der Worte nichts hätte, um sich darauf auszubreiten und zu erscheinen. So sehr die Figuren auch leiden in ihrem unerwidertem Begehren, verbindet sie doch immer eine Gemeinsamkeit: die Lust daran, die Fiktion der Liebe mit Worten in der Luft zu halten. Sie weht über allen wie ein fliegender Teppich und wer auch immer von ihm abstürzt, malt doch weiter an seiner Existenz.

Süchtig nach Liebesgeschichten sind sie alle, die dort zwischen den Büchern wohnen. Malvolio (Wolf Bachofner), der Haushofmeister, beweist seine Anfälligkeit durch das ständige Lesen von Romanschlüssen. Schlimmer sind die Symptome, die Herzog Orsino zeigt, schwärmerisch und fahrig bis zur Sprachstörung, die Vernichtung durch Zurückweisung schon in routinierter Melancholie auskostend.

Nübling lässt sie als Infizierte auftreten, in ihren Körpern getroffen und verbogen, und doch verlässt er nie die Ebene des Verkehrs aus Worten, leichtfüßig und virtuos. Der Prozess der Umkehrung, dass etwas sehr plötzlich das Gegenteil von dem bedeutet, was es eben noch meinte, heftet sich an alles. Der Narr (Wolfgang Michalek) führt es vor, er ist sozusagen der festangestellte Zuständige für die Inkonsistenz der Sprache. Aber alle anderen erfahren es auch: Es gibt kein Eigentlich hinter den Täuschungen. Die Liebe und der Wahnsinn fallen nach und nach in eins, weil die Identitäten der begehrten Personen zu fließen beginnen.

„Nichts ist so, wie es scheint“, sagt der Narr, „Ich bin nicht, was ich bin“, sagt Viola. An dem Motiv des Geschlechterwechsels hat Sebastian Nübling keine Genderdebatte aufgezogen, keinen Diskurs über die Konstruktionen von biologischem oder sozialem Geschlecht. Stück und Inszenierung lassen offen, ob aus Violas gewählter Uneindeutigkeit ein Weg zurück möglich oder überhaupt nötig ist. Gräfin Olivia merkt nicht, welchen der Zwillinge (Viola oder Sebastian) sie umarmt, ob sie im jungen Mann die junge Frau liebt oder umgekehrt. Nicht mal in der Liebe der Geschwister ist geklärt, ob sie nun das Eigene im Anderen oder gerade das Andere im Ähnlichen lieben. Die Verwirrung aber, die aus diesen Ungewissheiten entsteht, legt auch über die intimsten und zärtlichsten Momente der Inszenierung, eine große Spannung. Im Grunde behalten sie sich alle das Werden noch vor.

Aber nur in einer Hinsicht. Es gibt noch einen anderen Aspekt der Verschiebungen in den Identitäten: „High and Low“ heißt der Refrain eines Liedes, das alle zusammen einmal singen und dabei Türme aus Büchern bauen, bis Onkel Tobias dagegen tritt mit der Wut dessen, der nicht mehr hochkommt. An „High and Low“ wird festgehalten: Wer in „Was ihr wollt“ von der Liebe als Mittel des sozialen Aufstiegs träumt, bleibt auf der Seite der Verlierer und Narren.