Gesucht: eine neue Vision

Die SPD arbeitet an einem neuen Parteiprogramm. Hinein müssen jetzt der Fall der Mauer und die Globalisierung, der Terror und die Demografie

Strammer Fahrplan: Das neue Programm soll bis zum Parteitag im November 2005 fertig sein

VON ULRIKE WINKELMANN

Wer erfindet hier die Sozialdemokratie neu? „Alles neu erfinden wollen nur 20-Jährige“, sagt Wolfgang Thierse. Der Bundestagspräsident ist erstens längst erwachsen und steuert zweitens die Programmkommission der SPD. Die entwirft derzeit das neue Parteiprogramm. Im Berliner Willy-Brandt-Haus trifft sie sich heute Nachmittag zum dritten Mal. Thierse trägt über „Die Grundlagen unserer Politik“ vor. Deshalb weist er leicht gereizt darauf hin, dass die SPD schon länger über ihre theoretischen und philosophischen Fundamente nachdenkt – und nicht erst, seit die Umfragewerte unter der 30-Prozent-Marke hängen.

Da braucht dann kein Haufen Bundestagsabgeordneter plus Freunden daherkommen und sich mit einem Buch namens „Die neue SPD“ vordrängeln. „Unbescheiden“ findet Thierse diesen Titel, den die so genannten Netzwerker um den Niedersachsen Sigmar Gabriel für ihren Entwurf eines neuen SPD-Parteiprogramms gefunden haben.

Diese Angehörigen der „Nach-68er-Generation“ (Eigenbezeichnung) haben immerhin schon vor einem Jahr formuliert, was seit der Aufregung um Hartz IV im Sommer Allgemeingut ist: Die große Unzufriedenheit des Wahlvolks und der Basis mit der SPD könnte daher rühren, dass ihr Regierungshandeln so wenig damit zu tun hat, was man gemeinhin für Absicht oder auch „Vision“ der SPD gehalten hat.

In der 60-köpfigen Programmkommission tauchen die „Netzwerker“ nun freilich kaum auf. Der ganze eher marktliberale oder auch konservative Flügel der Partei hält sich gerne zurück, wenn es um Grundsätzlichkeiten geht. „Es gibt so Leute, die sagen: ‚Lasst die mal quatschen, wir machen das nachher im Kanzleramt klar‘ “, lästert das SPD-Präsidiumsmitglied Andrea Nahles. „Die Diskussion hat nicht die notwendige Schärfe – noch nicht.“

Der Ex-Juso-Chef Niels Annen sagt: „Was hilft es denn, wenn in der Kommission junge Linke mit alten Linken diskutieren“ – auch er vermisst den Beitrag des rechten Parteiflügels. Etwa zum „gemeinsamen“ Globalisierungsvortrag von Entwicklungsministerin Heidi Wieczorek-Zeul und Wirtschaftsminister Wolfgang Clement sei Letzterer gar nicht erst erschienen.

Bleiben die Thierses, Nahles, Annens und Wieczorek-Zeuls unter sich, ist die Arbeit der Kommission entwertet. Dabei hat sie Großes vor: Dem nächsten Parteitag im November 2005 soll ein Entwurf vorgelegt werden. Der von Parteichef Franz Müntefering festgesetzte Zeitplan ist „sehr stramm“, gibt Thierse zu. Der beginnende Bundestagswahlkampf erschwert die Sache. „Programmdebatten sind eigentlich etwas für Oppositionszeiten“ – die Gefahr droht, dass jeder Satz eher als kurzatmiges Regierungs- denn als möglichst langlebiges Parteiprogramm verstanden wird.

Das „Berliner Programm“ von 1989 soll dabei nicht ersetzt, aber umgeschrieben werden. Es hat sich als überaus kurzlebig erwiesen – wenige Tage vor dem Mauerfall wurde es fertig. Das Berliner Programm ist eine Art Kondensat der 80er-Jahre: Arbeit war ein endliches Ding, es müsse bloß gerecht verteilt werden. Postmaterialismus und Nachhaltigkeitsdenken kündeten von einer Bescheidenheit, die doch einem sicher geglaubten Wohlstand entsprang. Im Rückblick wirkt das 89er-Programm wie ein Luxusprodukt.

Das neue Programm muss nun das Ende des Ostblocks, Globalisierung, Europa, Terror – die Umbrüche seit 1990 verarbeiten. Der Punkt „Demografie“ ist im Berliner Programm noch ein daumenlanger Absatz. Auch der Blick auf Arbeit hat sich gewandelt: Die Menge der Arbeit ist nicht begrenzt, sie kann vermehrt werden, sagen Ökonomen.

Das ist einer der Gründe, warum auch im neuen Programm am Ziel Vollbeschäftigung festgehalten werden soll. „Was hätten wir gewonnen, wenn wir uns davon verabschieden würden?“, fragt Thierse. Sehr wohl zur Debatte steht dagegen das „Normalarbeitsverhältnis“: Die Einsicht, dass nur noch wenige Menschen 45 Jahre lang beim selben Arbeitgeber einem 38,5-Stunden-Job nachgehen, soll ins Programm.

Auch die SPD-Linke verabschiedet sich vom Glauben an ein garantiertes Wachstumsplus, das bloß umverteilt werden muss: „Das ist alte Bundesrepublik. Jetzt geht es um Chancen“, sagt Thierse. Zugang, Teilhabe, Chancen: das ist es, was die SPD jetzt verteilen will. Dahinter steckt der Hartz-IV-Gedanke „Fördern und fordern“.

Doch legen alle SPD-Programmierer Wert darauf, nicht bloß die Agenda 2010 philosophisch zu überhöhen. Die Diskussion über Teilhabegerechtigkeit soll mehr sein als eine nachträgliche Legitimierung der Kanzler-Sparpolitik. Und sie soll auch mehr sein als eine Müntefering’sche Beschäftigungstherapie für Linke. Am Ende soll die ganze SPD wissen, dass der Ertrag des Regierens mehr sein muss als bloß Macht.

Wenn es gut läuft, erfindet die SPD sich nicht selbst neu, aber einen handlungsfähigen Staat. Nur darf der sich nicht durch immer weitere Steuersenkungen ins Knie schießen. Aber die Zeit der Steuersenkungen, dies erklären alle Programmdiskutanten, sei nun vorbei. Mit dem Begriff „Stärkung des Staats – da zögere ich“, sagt Thierse. „Aber Stärkung der Politik, darum geht es.“