Kein Ende der Geschichte

Der Triumphzug der Demokratien hat gerade erst begonnen: Heute vor 200 Jahren wurde Ralph Waldo Emerson geboren, bis heute Dialogpartner für amerikanische Bürgerrechtler und Liberale

VON SEBASTIAN MOLL

Der schwarze Theologe und Bürgerrechtler Cornel West, einer der profiliertesten amerikanischen Intellektuellen unserer Zeit, macht drei typische Reaktionen auf das Gefühl der politischen Ohnmacht in der postkommunistischen, spätkapitalistischen Welt aus: Terrorismus bei den Ungeduldigen und Wütenden, professionellen Reformismus bei den kultivierten Liberalen und evangelikalen Nationalismus bei den paranoiden Konservativen, wie etwa dem derzeitigen Präsidenten der USA. Doch Ohnmacht, so West, muss nicht sein. Sein Gegenmittel: die Besinnung auf die amerikanische Denktradition, die vom vor heute genau 200 Jahren geborenen amerikanischen Nationalphilosophen Ralph Waldo Emerson begründet wurde.

Emersons programmatische Rede von 1837 an seiner Alma Mater Harvard, „The American Scholar“, wurde von den Zuhörern geradezu euphorisch aufgenommen – sie umriss, was genuin amerikanisches Denken zu leisten habe, und war somit eine intellektuelle Unabhängigkeitserklärung der jungen Nation. Der „Man Thinking“, den Emerson in der Rede als Leitbild entwarf, dürfe kein bloßer Bücherwurm sein. Keinem geringeren Ziel dürfe sein Streben dienen als der Verwirklichung seiner universalen Menschlichkeit. Und darin, so Emerson, sei er Genosse jedes anderen Amerikaners, der – gleich, was er tut – dieses Ziel teilt.

Das Projekt Amerikas war für den Goethe-Leser Emerson der Abschied von philosophischen Letztbegründungen und die Hinwendung zur Praxis – was der Mensch im Kern sei, habe sich in the long run erst zu erweisen. Der große Vorteil Amerikas liege bei dieser anthropologischen Entdeckungsreise darin, dass es kein Dickicht von Institutionen und Konventionen zu durchdringen gelte und vor allem, dass die Natur als solche auf dem neuen Kontinent noch erfahrbar war: In der Auseinandersetzung mit ihr konnte der Amerikaner sich als Mensch erleben, anstatt wie der Europäer in der Kammer darüber zu brüten, was er denn sei.

Heutige Zeitgenossen wie Cornel West oder auch der Liberalismus-Theoretiker Richard Rorty sehen in Emerson die Urszene des Pragmatismus, jene ureigene amerikanische Philosophie, die sich paradoxerweise dadurch auszeichnet, dass sie versucht, gerade keine Philosophie im herkömmlichen Sinn zu sein. Wahr ist im Pragmatismus, was jeweils zur jeweiligen Zeit im jeweiligen Kontext funktioniert: Jede Generation, so Emerson, muss ihre eigenen Bücher schreiben. Amerika ist somit ein fortwährendes, niemals abschließbares Experiment im Menschsein. Oder besser im Menschwerden.

Emerson selbst war alles andere als ein politischer Denker; von seinem begeisterten deutschen Leser Friedrich Nietzsche etwa wurde er vorwiegend seiner Sprachskepsis und seiner Metaphysikkritik wegen geschätzt. Dennoch hat gerade sein antimetaphysischer Radikalismus politische Implikationen. Cornel West etwa nimmt Emersons Denken als Grundstein für eine „Kultur der kreativen Demokratie“. Das soziale Experiment ist das Paradigma für diese Kultur, nicht etwa sind es die unverrückbaren Ideale der Aufklärung. Immer und immer wieder wird das Zusammenleben neu erprobt, verfeinert, verbessert, den Themen jeder Generation aufs Neue angepasst. Ein Hegel’sches Ende der Geschichte gibt es nicht.

So wird mit dem Rekurs auf Emerson der Spielraum für politisches Handeln im postideologischen Zeitalter wieder weit geöffnet – den Mut vorausgesetzt, auf objektive Begründungen und außersoziale Wahrheiten zu verzichten.

Die eigene Position wird auf die wackeligen Beine eines Zugehörigkeitsgefühls zu einer Tradition gestellt. Für den Pragmatisten Rorty ist dies die Tradition des Liberalismus. Weil er sich als liberal begreift, lehnt er Ungerechtigkeit und Gewalt ab. Mit seinen Mitmenschen verbindet ihn die Solidarität, durch die Lektüre ihrer Selbstbeschreibungen (Sprachanpassungen im Sinne Emersons) kann er sie in ihrer Andersartigkeit anerkennen: Anerkennung (Acknowledgement) wird zum höchsten Ziel sozialen Handelns und zum sozialen Leim.

West ist da radikaler und aktionistischer. Er fühlt sich der Religion verpflichtet und sieht sich als „prophetischer Pragmatiker“ in der Tradition von Martin Luther King. Auf dieser Grundlage verurteilt er Unterdrückung und Ungerechtigkeit auf der ganzen Welt: die Brutalität von Diktaturen der Dritten Welt, Rassismus, Sexismus, wirtschaftliche Ungerechtigkeit, Homophobie. Er wehrt sich gegen jegliche Machtstrukturen, die nicht öffentlicher Rechenschaft unterliegen – Bürokratien, Militärherrschaft, globale Konzerne. Mit dem weltweiten Triumphzug der liberalen Demokratien ist unter den Händen des emersonisch-pragmatischen Propheten deren Verwirklichung noch lange nicht abgeschlossen. Im Gegenteil, sie hat erst begonnen.