Der Spielball

War er nichts als ein Nazi-Spion oder tatsächlich ein Bauernopfer der Komintern? Auf den Spuren des Bestsellerautors und Doppelagenten Richard Krebs alias Jan Valtin

von ERNST VON WALDENFELS

Am 7. Februar 1938 lief der englische Frachter „Ary Lensen“ in den Hafen Newport News an der amerikanischen Ostküste ein. Unter der Besatzung befand sich ein deutscher Seemann mit einer abenteuerlichen Vergangenheit, der am 1. Januar im belgischen Gent angeheuert hatte. Die Einwanderungsbehörden teilten dem Kapitän mit, der Deutsche habe in den USA striktes Einreiseverbot, seit man ihn Ende 1929 nach Absitzen einer dreijährigen Haftstrafe wegen eines fehlgeschlagenen Attentats auf einen „abtrünnigen Kommunisten“ und Geschäftsmann aus Los Angeles entlassen hatte. Dem Kapitän wurde auferlegt, den Seemann rund um die Uhr bewachen zu lassen, um zu verhindern, dass er das Schiff auch nur für einen Moment verließ.

Nach vier Wochen verschwand der Deutsche plötzlich vom Schiff. Der Frachter wurde durchsucht, alle Besatzungsmitglieder wurden verhört. Einige Wochen später – die „Ary Lensen“ lag noch immer ohne Ladung fest – tauchte sogar ein Agent des FBI auf, der eine Untersuchung in Sachen Spionage aufnahm. Der Grund hierfür dürfte den Besatzungsmitgliedern zu diesem Zeitpunkt längst klar geworden sein. Denn überall an der Küste hatten Kommunisten Steckbriefe mit einem Bild des flüchtigen Deutschen geklebt: „Der Abgebildete ist Richard Krebs. Bis vor kurzem lebte er in Paris unter dem Vorwand, ein ‚politischer Flüchtling und Antifaschist‘ zu sein. In Paris geriet er unter Verdacht, und nach einer sorgfältigen Untersuchung wurde aufgedeckt, dass er mit der deutschen Botschaft in Paris (der Zentrale der Gestapo-Spionage in Paris) Kontakt hatte. Gerüchten zufolge hat er ein Schiff nach Amerika genommen, um dort seine Spitzelei unter Deutschen fortzusetzen.“

Einer dieser Steckbriefe befindet sich heute als Teil einer FBI-Akte in den National Archives in Washington. Weiter enthält die Akte Briefe von Krebs’ Frau und Bruder an ihn, die allerdings als solche nicht sofort erkennbar sind. Beide hatten unter Pseudonym geschrieben. Die Briefe enthalten Krebs’ persönlichstes Geheimnis und den Schlüssel zu seinem Doppelspiel mit der Gestapo.

Das FBI legte die Sache Richard Krebs bald zu den Akten, denn der angebliche Spion blieb verschwunden. Erst Anfang 1941 sollte er wieder auftauchen, als er unter dem Pseudonym Jan Valtin „Out of the Night“ veröffentlichte, eine angebliche Autobiografie, die auf jeder Seite absolute Authentizität behauptet. Es war ein Bericht seiner Vergangenheit als Seemann und kommunistischer Funktionär, seiner späteren Inhaftierung und Folterung in den KZ und Gefängnissen Nazideutschlands. Krebs alias Valtin bestritt gar nicht, für die Gestapo tätig gewesen zu sein, beharrte jedoch darauf, dies sei auf Veranlassung des sowjetischen Geheimdienstes GPU geschehen.

„Out of the Night“ hielt sich das ganze Jahr 1941 über an der Spitze der US-Bestsellerlisten. Nachdem ein Reporter das Pseudonym enttarnt hatte, begann eine Jagd nach dem Autor, die sich in unzähligen spekulativen, zum Teil völlig abstrusen Zeitungsartikeln niederschlug. Harte Fakten hingegen waren bis zum Ende des Kalten Krieges kaum zu bekommen. Erst 1989/90 änderte sich die Lage, als jener Hauptteil der Gestapo-Akten, den die rote Armee erbeutet hatte, plötzlich in Ostberliner Archiven auftauchte; auch die Akten der KPD sowie der kommunistischen Internationale in Moskau wurden nun zugänglich.

Laut seinem Buch war Krebs alias Jan Valtin von Hamburg aus tätig gewesen, hatte sich nach Hitlers Machtergreifung anfänglich am dortigen Widerstand beteiligt, bis er zu wichtigeren Missionen ins Ausland abberufen wurde. Ende 1933 schickte ihn Ernst Wollweber, der spätere Leiter der Staatssicherheit der DDR und damals Sekretär des Exekutivkomitees der Internationale der Seeleute und Hafenarbeiter (ISH) in Kopenhagen, auf ein Himmelfahrtskommando nach Deutschland zurück, wo Krebs prompt festgenommen und zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt wurde.

Detailliert beschreibt Krebs, wie er ab 1931 unter einer Reihe von Decknamen durch Europa reist, aus dem Hintergrund Streiks dirigiert, KP-Funktionäre höchsten Kalibers zur Rechenschaft zieht und nebenher noch Aufträge der sowjetischen Geheimdienste erledigt. Die Bezeichnung seiner Tätigkeit: Instrukteur. Völlig unabhängig von nationalen Parteigliederungen, doch mit allen Vollmachten ausgestattet, sei er nur dem streng geheimen Westbüro der Komintern verantwortlich gewesen, das die Politik aller kommunistischen Parteien Westeuropas in engstem Kontakt mit dem Kreml festgelegt habe. All die bekannten Parteiführer seien nichts als Marionetten des Westbüros gewesen.

Vor der Wende hatte sich vor allem der Exilforscher Michael Rohrwasser auf die Spurensuche nach dem angeblichen Doppelspion gemacht. Der Literaturwissenschaftler war die Akten der Bremer Polizei durchgegangen, hatte das Hamburger Adressbuch überprüft und noch lebende Zeitzeugen aufgespürt. Insgesamt hatte Rohrwasser nur marginale Abweichungen zwischen „Out of the Night“ und dem wirklichen Leben seines Autors gefunden.

Der Historiker Dieter Nelles dagegen konnte die neu geöffneten Archive konsultieren und fand deutliche Widersprüche zwischen dem Tagebuch und den tatsächlichen Ereignissen. Aufgrund dieser Diskrepanzen glaubte er, den Inhalt von „Out of the Night“ als groteske Verschwörungstheorie erledigen zu können, und erklärte die Instrukteure und den von Krebs beschriebenen Apparat als pure Erfindung. Aus den Akten der Gestapo schließlich schloss er auf eine Bona-fide-Gestapo-Tätigkeit des Richard Krebs. Doch kann man allein auf der Basis deutscher Akten Aussagen über eine Organisation machen, die von Moskau aus gesteuert wurde? Und wenn Krebs, wie in seinem Buch beschrieben, die Gestapo wirklich an der Nase herumgeführt hatte, ist seine Verpflichtungserklärung kaum ein Beweismittel.

Wenn es ihn überhaupt gab, dann musste der Schlüssel im Archiv der Kommunistischen Internationale in Moskau zu finden sein. Das Archiv in Moskau ist selbst heute nur teilweise zugänglich. Alles, was mit den Geheimoperationen der Komintern zu tun hatte, bleibt verschlossen. Doch das Wirken der Instrukteure war für die Arbeit der Komintern zu wichtig, als dass es sich in den zugänglichen Rechenschafts- und Kongressberichten, den Briefwechseln über politische Streitigkeiten und Intrigen hätte völlig verschweigen lassen.

Insgesamt bestätigte sich das Bild, das Krebs von den Machtverhältnissen gezeichnet hatte. Seine eigene Bedeutung jedoch hatte er übertrieben, um manche Begebenheiten als selbst erlebt behaupten zu können. Auch hatte er sich von seinen persönlichen Anti- und Sympathien leiten lassen. Seinen eigentlichen Vorgesetzten, einen Polen namens Alfred Bem, hatte er aus berechtigter Angst um dessen Schicksal in Stalins Sowjetunion verschwiegen und dessen Rolle dem ihm verhassten Ernst Wollweber zugewiesen.

Weitere Rätsel lösten sich, als ich auf einen Geheimapparat stieß: den OMS, den Kurier- und Nachrichtendienst der Komintern, der als Verbindungsapparat zwischen der Sowjetunion und den Bruderparteien in aller Welt operierte. Vor dem Aufkommen des interkontintentalen Flugverkehrs in den späten Dreißigerjahren waren Schiffe die einzige Möglichkeit, Waffen, Propaganda, Agenten und Geld zu verschicken. Aus außenpolitischem Kalkül kamen Sowjetschiffe für derartige Transporte nicht in Frage. Man verließ sichstattdessen auf ein Netz überzeugter Kommunisten in der Handelsmarine insbesondere Deutschlands und Skandinaviens, das mit erstaunlicher Pünktlichkeit blinde Passagiere und Kontrabande rund um den Globus beförderte. Der OMS war eines der bestgehüteten Geheimnisse der frühen Sowjetunion.

Als kommunistischer Seemann war Richard Krebs früh mit dem Verbindungsapparat in Berührung gekommen und hatte eine Reihe von Aufträgen für ihn ausgeführt, ohne allerdings genau zu wissen, mit wem er es zu tun hatte – in seinem Roman ist lediglich vom sowjetischen Geheimdienst die Rede. So war es auch mit Krebs’ Tätigkeit als Doppelagent. Die Rolle, die er gespielt hatte, sollte er bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1951 nie ganz durchschauen. In Wahrheit war Krebs nur am Anfang, beim Übertritt in die Dienste der Gestapo, der zwar nicht im Auftrag der GPU, aber mit Wissen und Billigung seiner Genossen erfolgt war, noch Herr seiner eigenen Entscheidungen. Nach seiner Ankunft in Kopenhagen jedoch war er nur mehr Spielball Ernst Wollwebers – eines Mannes, den er zunächst bewundert hatte.

Wollweber war seit 1937 Führer einer Organisation, die Sabotageakte gegen die Schifffahrt der Achsenmächte plante, Brände legte, Haftminen anbrachte und erst nach dem deutschen Einmarsch in die Beneluxländer zerschlagen wurde. Wie man den nach Hamburg geschickten Agentenberichten entnehmen kann, wurde Richard Krebs dazu benutzt, die Gestapo von Wollwebers eigentlicher Tätigkeit abzulenken und die Aufmerksamkeit der deutschen Geheimpolizei auf eine andere, von der KPD abtrünnige Widerstandsgruppe zu richten. Gleichzeitig wurde der Doppelagent völlig isoliert und von allen wichtigen Informationen ferngehalten. Zum Bruch kam es, wie auch im Bestseller beschrieben, als sich Krebs aus Angst um seine Frau – die als Faustpfand der Gestapo in Deutschland hatte zurückbleiben müssen – weigerte, die Doppelrolle weiterzuspielen.

Aber es gab weder eine heldenhafte Flucht noch die im Buch geschilderte dramatische letzte Auseinandersetzung mit Wollweber. In Wahrheit wurde Krebs in Begleitung Richtung Spanien geschickt, wo man vorhatte, ihn während des Bürgerkriegs ohne viel Aufsehen zu liquidieren. In Paris rettete sich Krebs in die deutsche Botschaft, servierte der Gestapo ein neues Lügenmärchen und verschwand dann mit Hilfe von Seeleuten, die der KPD den Rücken gekehrt hatten, aus Europa.

Wahrscheinlich waren Wollwebers Leute Krebs bereits auf der Spur, als er Anfang März 1938 von der „Ary Lensen“ verschwand. In New York hatten sie ihn wieder. Er entkam noch einmal, aber seine persönlichen Papiere hatte er verloren. Darunter auch jene Briefe, die später in den Akten des FBI auftauchten. Aus ihnen geht hervor, dass Krebs die Gestapo von Anfang an hatte betrügen wollen – mit dem Ziel, seine Familie unter den Augen der Geheimpolizei aus Deutschland herauszuschmuggeln. Ein wahnwitziges Unterfangen mit hohem Einsatz: Im Fall, dass die Gestapo Krebs’ Doppelspiel aufdeckte, schwebte seine Frau in Lebensgefahr. Mit der Beschlagnahme der Briefe riss der Kontakt zu ihr endgültig ab. Hermine Krebs starb ein halbes Jahr später nach neuerlichen Verhören durch die Gestapo.

Wäre ihm die Befreiung geglückt, hätte Krebs wohl kaum seine wütende Abrechnung „Out of the Night“ publiziert. Und es wäre unentdeckt geblieben, dass der Agent seine Spuren auch in seinem Schlüsselroman verwischt hatte, jedoch nur um eine andere, schmerzlichere Wahrheit zu verdecken: Der Held war in Wirklichkeit nur eine kleine, machtlose Figur, und seine große Liebe war nicht nur der Gestapo, sondern auch seiner maßlosen Selbstüberschätzung zum Opfer gefallen.

„Out of the Night“ erschien 1957 unter dem Titel „Tagebuch der Hölle“ auf Deutsch (neue Auflage im Komet Verlag, Köln 2001, 600 Seiten, 10 Euro) ERNST VON WALDENFELS, 40, lebt als freier Autor in Berlin. Über seine Recherchen zu Richard Krebs erschien sein Buch „Der Spion, der aus Deutschland kam“. Aufbau Verlag, Berlin 2002, 382 Seiten, 22,50 Euro