Das Dorf hinter Stacheldraht

„Mir tun die Leute Leid. Aber was soll ich tun? Das hier ist eben mein Job“

AUS ALBU HISHMET INGA ROGG

Wie ein majestätischer Wald umschließen die meterhohen Dattelbäume die flachen Lehmhäuser und schlichten Steinbauten von Albu Hishmet. In sattem Grün leuchten dazwischen die Orangenbäume auf den Plantagen und in den Gärten vor den Häusern. Auf einem Feld an der Straße zum Fluss weiden ein paar Kühe. Ein nahezu perfektes Idyll mitten im historischen Mesopotamien. Wären da nicht die Stacheldrahtrollen und die Betonbarrikaden, die daran erinnern, dass hier neun Monate nach Ende der Hauptkampfhandlungen noch immer Krieg geführt wird. Ein Kleinkrieg zwischen den Soldaten einer technisch bestens ausgerüsteten Weltmacht und den Schattenkämpfern einer undurchsichtigen Untergrundarmee. Ein Krieg, in dem es oft schwierig ist, die Wahrheit herauszufinden, und in dem – wie so oft – die Zivilisten zwischen die Fronten geraten.

Ende November wurde Albu Hishmet großräumig mit Stacheldrahtrollen abgezäunt, die Brücke über den nahen Tigris gesperrt. Seitdem gibt es nur noch im Nordwesten den Ortes einen Zugang, der zusätzlich durch Betonblöcke gesichert ist. Posten des Irakischen Zivilverteidigungkorps, einer neu geschaffenen paramilitärischen Einheit, überprüfen hier jeden, der den Ort betreten oder verlassen will. Ein- und Ausgang wird nur zwischen acht Uhr morgens und fünf Uhr nachmittags gewährt, in den Nachtstunden gilt für alle Bewohner eine absolute Ausgangssperre. Männer aus dem Ort müssen sich an dem Kontrollpunkt durch ein von den Amerikanern ausgestelltes Papier ausweisen. Auf dem in Plastik eingeschweißten Ausweis sind Name, Alter, gegebenenfalls das Auto und unter dem Porträt die handgeschriebene Ausstellungsnummer festgehalten.

Am Ortsrand liegt der Hof von Hadid Yasin. In dessen Nähe war am 18. Juli ein amerikanischer Konvoi unter Granatenbeschuss geraten. Dabei wurde ein Soldat getötet. Die Amerikaner erwiderten das Feuer und schossen in Richtung der mutmaßlichen Angreifer, dorthin, wo Hadid Yasins Hof liegt. Im Garten feierte zu diesem Zeitpunkt gerade eine Hochzeitsgesellschaft. Es sei tatsächlich geschossen worden, sagt der alte Mann. Doch nicht auf die Amerikaner, sondern in die Luft, wie das bei Hochzeiten im Irak so üblich ist. Soweit wird die Geschichte auch von anderen Bewohner am Ort bestätigt.

Im Feuer der Amerikaner wird Hadids Frau von einer Kugel in den Rücken getroffen und stirbt. Ein Sohn wird tödlich verletzt, als er versucht, sich in Sicherheit zu bringen. Rund um das Gehöft sind auch Monate später noch Spuren eines schweren Kampfs zu sehen. Mauern sind von Einschusslöchern übersät, Granaten haben ein großes Loch in die Stallungen gerissen und eine Dattelpalme schwer beschädigt. Eine Frau schleppt Kochtöpfe heran, die von Kugeln durchsiebt sind.

„Der US-Soldat war nett. Aber wer mit Amerikanern redet, gilt als Verräter“

Seit den tödlichen Schüssen im Juli ist Albu Hishmet nicht mehr zur Ruhe gekommen. Fortwährend gebe es Attacken auf den Ort, sagen Nachbarn. Geschossen werde aber keineswegs nur von den Amerikanern. Wer dafür verantwortlich ist, will freilich niemand offen sagen. „Sie haben die Wahhabis doch selbst gesehen“, sagt einer. Das ist auf den Kreis junger Männer aus Hadids erweiterter Familie gemünzt. Sie tragen die langen Bärte, die zum Erkennungszeichen militanter Islamisten geworden sind, und treten offen für einen islamischen Staat ein. Zwei Neffen des alten Hadid wurden in den letzten Monaten von den Amerikanern festgenommen, einer wurde getötet, als er sich der Festnahme widersetzte. „Alle hassen die Amerikaner und die Besatzung“ sagt Hadids Sohn Khalid, „deshalb ist der Widerstand legitim.“ Der alte Mann und sein Bruder, einer der Stammesscheichs von Albu Hishmet, sehen das anders. Der Irak brauche erst wieder eine Zentralregierung, sagen beide. Am liebsten wäre ihnen eine Königtum. Unter dem König sei es ihnen, den Sunniten, vor den endlosen Putschen und Diktaturen immer noch am besten ergangen. Einige der bärtigen Jungen runzeln nur die Stirn und verziehen sich.

Mit der Blockade haben die Amerikaner aber nicht nur weiteren Zorn der Radikalen auf sich gezogen. Auch an der Grundschule des Dorfes ist man empört. Zahlreiche Lehrerinnen und Lehrer kommen aus der Gegend um Baquba auf der anderen Seite des Tigris. In der Hoffnung auf eine spätere Anstellung arbeiten sie gegen ein kleines Entgelt für jede abgehaltene Unterrichtsstunde. Seitdem die Brücke gesperrt ist, müssen sie für die tägliche Fahrt mit Taxen und Boot doppelt so viel berappen wie zuvor. „Die Amerikaner haben uns Freiheit, Frieden und Wohlstand versprochen“, sagt Ayad Muthab Mahmud. Nichts davon hätten sie erfüllt, schimpft der Lehrer. Statt dessen müsse er Angst haben, erschossen zu werden. Immer wieder kommt es vor, dass Zivilisten an Kontrollpunkten erschossen werden, weil sie die Anweisungen der Soldaten nicht richtig verstehen oder in das Kreuzfeuer mit Untergrundkämpfern geraten. Über Opfer unter der Zivilbevölkerung macht das amerikanische Militär nur selten Angaben. Eine Statistik des Gesundheitsministeriums, die auf Krankenhausdaten beruht, wird unter Verschluss gehalten und seit Mitte Dezember nicht mehr weiter geführt. Es sei nicht möglich, zwischen den zivilen Opfern von krimineller und militärischer Gewalt zu unterscheiden, sagt der Minister.

Angst vor schnell schießenden Amerikanern hat auch Iman, ein hübsches Mädchen aus dem Nachbarort. Noch mehr fürchtet sie aber die Untergrundkämpfer, die jedem mit Mord drohen, der sich mit den Besatzern einlässt. Vor kurzem hat sie einen jungen US-Soldaten kennen gelernt. Mit dem konnte sie sich gut unterhalten, erzählt sie. Aufmerksam habe er zugehört, was die gläubige Muslimin, die streng das Kopftuch trägt, ihm über den Islam zu sagen hatte. Es war ein netter und anständiger Junge, sagt Iman. Sie fand ihn richtig süß. Noch einmal könne sie ein Treffen nicht wagen: „Wer mit den Amerikanern redet, gilt in den Augen der Untergrundkämpfer als Verräter. Die bringen ihn einfach um.“

Angst haben aber auch die US-Soldaten an der Brücke über den Tigris. Als sich die Journalisten nähern, brüllt ein junger GI, sie sollen verschwinden. Schließlich kommt doch noch sein Vorgesetzter, ihm folgt mit gezogener Waffe ein zweiter Soldat. Die Brücke bildet den Kreuzungspunkt der Straßen von Baquba nach Westen in Richtung Falludscha und Ramadi sowie von Bagdad nach Norden in Richtung Samarra und Tikrit.

„Alle hassen die Amerikaner und die Besatzung. Deswegen ist der Widerstand legitim“

Seit ihrer Ankunft Ende April seien sie ständig Angriffen ausgesetzt, sagt Sergeant Eddings. Angriffen mit handgebastelten Bomben, Mörsern, Granaten, dem gesamten Arsenal der Untergrundkämpfer. Mitte 20 ist Eddings, seine beiden Kameraden sind 20 und 19, für beide ist er der erste Kampfeinsatz. Mit der Schließung der Brücke hoffen die Amerikaner eine der Routen der Kämpfer zu unterbinden. Wer die Angreifer seien, wisse er nicht. Und zu den Ereignissen in Albu Hishmet will er sich nicht äußern. „Die Lehrer tun mir Leid“, sagt Eddings. „Aber was soll ich tun“, fährt er mit einem Schulterzucken fort: „Das ist eben mein Job.“ Währenddessen fahren drei Stryker vorbei, die neue Wunderwaffe des Pentagon. Schnell, geländegängig und leise, wie das Fahrzeug ist, soll es im Antiterrorkampf die lärmenden und vergleichsweise schwerfälligen Bradley-Panzer ersetzen. Mit den aufmontierten Gittern zum Schutz gegen schwere Waffen und den Antennen sieht der Wagen aus wie eine Mischung aus urtümlichem Metallmonster und Hightech-Roboter. Hier am Westufer des Tigris, Kerngebiet des ehemaligen Saddam-Reichs, soll er die Feuertaufe gegen eine vielschichtige Untergrundtruppe aus Milizionären des alten Regimes, ihren Elitekämpfern und islamistischen Kriegern bestehen.

Mitte Dezember hat ein Oberst der US Army Albu Hishmet einen Besuch abgestattet. Die Armee sei bereit für die Schäden im Ort aufzukommen und in seine Infrastruktur zu investieren. Zugleich wollte er die Hilfe der Dörfler bei der Suche nach den Untergrundkämpfern. Der Sohn des alten Hadid hat dafür nur einen abschätzigen Blick. „Ich brauche deren Geld nicht“, sagt er trotzig.

Auf dem kleinen Fischerboot am Tigris, das jetzt als Fähre dient, finden sich nach und nach die Fahrgäste ein: Bauern mit furchigen Händen, Frauen mit halbverschleiertem Gesicht, junge Lehrer in Anzug und Krawatte, als Letzte steigt Iman ein. Misstrauisch blicken einige in Richtung des Panzers am Hochufer. Eine gemeinsame Sprache scheint es für beide Seiten nicht zu geben.