Ekstatiker auf der Suche

In seinem Dokumentarfilm „Rad der Zeit“ lässt sich Werner Herzog vom Dalai Lama den Satz sagen: „Auch Sie sind das Zentrum eines Universums.“ Das ist Buddhismus

Unmöglich, die Erfahrungen des Mönches an seinem Gesicht abzulesen. Die Narbe auf seiner Stirn lässt nur vermuten, was er in den letzten dreieinhalb Jahren durchgemacht hat. „Ich weiß jetzt, wie groß die Erde ist“, sagt er. Er hat sie mit dem Körper ausgemessen.

Die 4.000 Kilometer von seinem Heimatdorf bis nach Bodh Gaya in Indien, der heiligen Stätte des Buddhismus, hat er ausschließlich durch Niederwerfungen zurückgelegt: sich hinlegen, langstrecken, aufstehen, kurzes Gebet und alles wieder von vorn. Jetzt steht er inmitten einer halben Million Pilger, von denen die meisten das gleiche rote Gewand tragen wie er und auf die gleiche Weise angekommen sind, lächelt und schweigt. Denn vom eigentlichen Erlebnis, der Verwandlung seiner Seele, kann er nicht erzählen. „Die innere Vision ist nicht darstellbar, man sieht sie nur im Kopf“, sagt ein anderer Mönch, der wochenlang an einem Bild aus Sand arbeitet, kniend, mit Atemschutz.

Es ist diese Verbindung von Körperlichkeit und Spiritualität, die den Filmemacher Werner Herzog überzeugt haben muss, das bedeutendste Ritual des Buddhismus, die Kalachakra-Initiation, in Bodh Gaya, Indien, und in Graz, Österreich, zu filmen. Er habe eigentlich gar keine Verbindung zum Buddhismus, gestand der Filmemacher in einem Interview, und nichts liege ihm ferner, als Religionstourismus zu betreiben. Wenn er sich dennoch nach Indien und Tibet aufgemacht hat, um das jährliche Ritual zu filmen, das nur unter Aufsicht des Dalai Lama selbst durchgeführt wird, liegt das an Amateuraufnahmen einer früheren Initiation, die Herzog vorgeführt wurden.

„Ich sah etwas, was man nicht alle Tage sieht“, gesteht ausgerechnet der Regisseur, der schon im Amazonasbecken, auf Vulkangipfeln oder auf Berggipfeln nach den Bildern gesucht hat, die sonst keiner sieht. Und ausgerechnet ein Künstler, der Bewunderern wie Verächtern als begnadeter Egomane gilt, macht einen Film über eine Religion, in deren Zentrum die Auflösung des Selbst steht.

Aber in „Rad der Zeit“ wird schnell deutlich, worin die „körperliche Faszination“ liegt, die Herzog beim Filmen verspürt hat. Alle Elemente der Herzog’schen Obsessionen finden sich wieder: die von der Zivilisation verschonten Landschaften, in denen sich die Kraft des Rituals noch entfalten kann; die Sinnsuche durch extreme körperliche Anstrengung; die Begegnung fremder Kulturen; die Reise, die nur zu Fuß gemacht werden kann; der Einzelne vor der Gewalt der Natur. Dass seine Dokumentarfilme nie die „Wahrheit der Buchhalter“ bedeuten, sondern auf der Suche nach der „ekstatischen Wahrheit“ sind, hat Herzog oft genug betont.

Diese Hingabe mit Mystizismus, Irrationalität oder deutscher Romantik zu verwechseln, ist den Kritikern des Filmemachers, der längst nicht mehr in einem finsteren Wald in Bayern, sondern in den USA lebt, oft genug passiert. In „Rad der Zeit“ entpuppt sich der Dalai Lama selbst als wahrer Verbündeter und hellsichtigster Kommentator von Herzog, wenn er diesem erklärt: „Auch Sie sind das Zentrum eines Universums.“

DIETMAR KAMMERER

„Rad des Lebens“. Regie: Werner Herzog. Deutschland 2002, 81 Minuten