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: Auf der Suche nach dem verlorenen Leser

Muhammad Ali und die Frauen

Es war der größte Moment des Tages. Viele, viele Schulklassen, vor allem zwölf-, fünfzehn und achtzehnjährige Jungs und Mädchen drängten sich vor einem eigens aufgebauten Boxring in einer der Messehallen. Sie warteten begierig auf einen, der den amerikanischen Traum beim Schopf gepackt hat, ganz ohne Schule und andere Demütigungen: auf Muhammad Ali, der – ohne selbst etwas zu sagen, dafür aber neuerdings mit Schnurrbart – einen neuen, 800 Seiten starken, 35 Kilo schweren und 3.000 Euro teuren Bildband vorstellen sollte.

Sie warteten eine halbe Stunde, sie warteten eine Stunde, sie waren so geduldig und stur, dass man sich schon fragen musste, ob es vielleicht einfach nur tolle Themen braucht, damit der krisengebeutelten Buchbranche nicht immer noch mehr und vor allem junge Leser wegbrechen. Vielleicht sollte es in Zeiten von Jugendarbeitslosigkeit und anderen Zukunftssorgen einfach mehr Storys geben wie die über Muhammad Ali? Oder besser: Vielleicht haben die Jungen und Mädchen heute einfach Besseres zu tun als sich stundenlang kontemplativ in Bücher zu versenken, die sie wenig angehen.

Immer wieder stolperte man auf der Buchmesse über die Frage: Wer sind sie eigentlich, die Leser, und wie gehen wir damit um, dass Männer zwischen 30 und 60 Jahren eigentlich überhaupt nicht mehr lesen? Wird die traditionelle Frauenliteratur, in der es eher um Einfühlung geht, hinfällig, wenn Frauen immer mehr quer durch alle Genres lesen?

Bei einer Diskussion über das Bild der russischen Literatur in Deutschland, bei der unter anderen Literaturen-Herausgeberin Sigrid Löffler und Verlegerin Irina Prochorowa auf dem Podium saßen, wurde Wladimir Kaminer zu Recht ein bisschen ausgelacht, als er viele experimentierfreudige Neuerscheinungen damit abtat, dass der Leser in Russland wie in Deutschland eine Frau um die 50 sei und am liebsten über die Liebe lese, aber sicher keine Bücher über Drogen und Sex. Und eine Veranstaltung im hintersten Winkel der Messe, die den wenig versprechenden Titel „1. Frankfurter Frauen-Talkshow“ trug, erledigte sich praktisch selbst, indem sie im Anschluss an die Diskussion Sektempfang – „For Women only“ – versprach.

Für den feierlichen Ausklang des Tages schließlich bot sich eine Massenlesung in Frankfurts berühmtesten Gebäude an: im Römer. Hunderte von Messenbesuchern waren gekommen und harrten trotz Fußmüdigkeit oft stehend aus, manche sogar in den Vorräumen, wo die Lesung illustrer Autoren wie Alexander Kluge und Hans Joachim Schädlich auf Monitoren übertragen wurde.

Ein Mädchen erzählte einer Freundin, dass sie heute auf der Buchmesse gewesen sei. Daraufhin fragte die Freundin zurück: „Und was gab es denn für Bücher?“ Und während Wolf Wondratschek seinen Altmännerfantasien kichernd freien Lauf ließ und zufrieden über die erotischen Eigenschaften seiner neuen Romanheldin plauderte – einem Cello namens Mara, das man so prima zwischen die Beine klemmen kann –, sagte der portugiesische Schriftsteller Antonio Lobo Antunes etwas sehr Schönes. Er sprach über die Demut und den Kontrollverlust, die das Schreiben im Dunkeln, wie er es praktiziere, mit sich bringe: „Ich kann nur anfangen zu schreiben, wenn ich weiß, ich kann es nicht“, erzählte er, und sprach dann davon, wie er am Anfang an einem seiner Romane zweifelte, weil es um vier Protagonistinnen gehen sollte. „Was weiß ich über den weiblichen Orgasmus, über die Menstruation“, hätte er sich gefragt. Doch dann hätten ihn seine Heldinnen einfach irgendwann an die Hand genommen und es ihm gezeigt. SUSANNE MESSMER