Theater als Revolutionsersatz

„Theaterland wird abgebrannt“: Die Theaterverbände luden zum Protest gegen Kulturabbau nach Berlin. Aber die Agitation verhallte im leeren Raum. Das Theater selbst ist weiter als seine Verbände

von KATRIN BETTINA MÜLLER

Nachsitzen im Theater: Der Kongress, der unter dem Motto „Theaterland wird abgebrannt“ am 3. Oktober im Schiller Theater in Berlin stattfand, glich ein wenig einer Strafarbeit für Theaterschaffende. Eingeladen hatten der Deutsche Bühnenverein und weitere Theaterverbände; gekommen waren viele Theaterleiter, Schauspieler und Regisseure, eher die Stars der Achtzigerjahre als der Gegenwart. Die Vorträge des Wirtschaftswissenschaftlers Rudolf Hickel, von Michael Naumann zu den Ängsten der Kulturpolitik und des Philosophen Erich Hörl über „Unmögliche Zeitgenossenschaft“ versuchten, den Horizont zu öffnen und die Krise des Theaters von weiter weg zu betrachten. Die Spiegel, die sie für das Theater aufstellten, erlaubten zwar, deren Probleme als Teil politischer Entscheidungen und Ergebnis einer spezifisch deutschen Geschichte zu sehen, doch zu Thesen, wie die Häuser wieder neue Handlungsspielräume gewinnen könnten, führten die Befunde nicht.

Gespenstisch war der Rahmen: Das Schiller Theater in Berlin, vor zehn Jahren geschlossen, heute selten von Gastspielen genutzt und noch immer mit 2 Millionen Euro Unterhalt den Etat des Berliner Senats belastend – ein Beispiel für missglücktes Sparen. Nachgeweint hat der Westberliner Institution dennoch niemand an diesem so genannten Aktionstag – eher schon galt es als Menetekel für Abwicklungen, die trotz lange sichtbarem Anmarsch der Krise keine Gegenwehr finden. Ein Manifest gegen den Abbau der Theaterlandschaft wurde verteilt – und Statements von Intendanten und Autoren verlesen, die den schaurigen Charakter von Solidaritätsadressen bekamen.

Dennoch blieb dieser Kongress vor einem Publikum aus Fachleuten in einem seltsamen Vakuum hängen. Wahrscheinlich, weil von ihnen einzelnen fast schon jeder an einer Analyse gearbeitet hat, die einzusehen und umsetzen dagegen ihren berufsständischen Vertretern und kulturpolitischen Verbänden noch schwer fällt. Dass wiederholte Klagen ermüden, wusste hier jeder. Dass man nicht jedes Theater erhalten muss, denken viele, aber will keiner sagen.

Dass aber die Selbstkritik des Theaters, die von den beiden Moderatoren Iris Radisch und Klaus Bednarz immer wieder eingefordert wurde wie der entscheidende Schritt zur Lösung der Probleme, nicht ohne ein gewisses Maß an Selbstbezüglichkeit generiert werden kann, die Radisch und Bednarz dem Theater aber ständig als sein größtes Übel anlasteten; dieses Dilemma in der Auseinandersetzung mit der eigenen kritischen Funktion stellt ja so etwas wie das tägliche Brot der Theaterleute dar. Viele Inszenierungen erzählen davon, vom Zweifel an der institutionalisierten Aufgabe des Theaters und den Motiven für ein Dennoch. Niemand rumort so heftig gegen die Grenzen der Institution wie die, die innen sind. Manfred Zehetlein, erfolgreicher Intendant der Oper in Stuttgart, sprach es schließlich aus: „Ohne Selbstbezüglichkeit hätte Theater keine Substanz.“ Nur im kulturpolitischen Diskurs ist das kein Argument.

Die beste Vorlage für einen kämpferischen Geist lieferte Rudolf Hickel, Wirtschaftswissenschaftler aus Bremen, der hemdsärmelig die falsche Logik der Politik angriff: wie die Kommunen, die die Theater unterhalten, verarmten, weil die großen Unternehmen immer weniger Steuer zahlen müssen, und wie soziale Vorsorge gerade für die immer mehr abgebaut werde, die privat vorzusorgen gar nicht die Mittel haben. Seiner Logik zufolge wären die SPD-Politiker, die zurzeit als Abweichler marginalisiert werden, die erste Adresse auf der Suche nach politischen Bündnispartnern der Theater. Aber diesen Weg, der nach scheißviel Basisarbeit riecht, griff niemand auf. Schließlich will man Theater spielen und keine Revolution machen.

Dass aber Deutschland berühmter für sein Theater ist denn für seine (ausgefallenen) Revolutionen, schälte Michael Naumann als einen Kern des Problems heraus. Die Vielzahl der Stadttheater heute (151), mehr als in jedem anderen Land, ist nicht nur eine Folge von Kleinstaaterei und der Verspätung der Bildung einer Nation, sondern auch davon, dass während des Idealismus das Theater als öffentlicher Raum über andere Defizite im beginnenden bürgerlichen Diskurs hinweghalf; eine Ersatzfunktion, die im Übrigen den Klassikern schon schwer auf der Seele lag. Von diesem Dilemma am Ursprung des Theatersystems bis heute lassen sich wunderbare Linien ziehen, allein Augen dafür haben Kulturpolitiker der Gegenwart kaum. Man kann das als mangelnde Bildung beklagen; aber herstellen lässt sich so das verlorene Bewusstsein von der historischen Relevanz der Theater nicht wieder.

In Berlin hängen die Plakate, die mit dem Floß der Medusa zu dem Kongress „Theaterland wird abgebrannt“ einluden, neben Anschlägen der Sophiensäle „Theater muss nicht sein“. Damit kontern die Sophiensäle, die mit freien Gruppen ein hippes Programm zeigen, den Slogan des Bühnenvereins „Theater muss sein“. Warum auch sollte man sich nicht einmal eine Welt ohne Theater vorstellen, um für das scheinbar Selbstverständliche wieder neue Motivationen zu finden. Ein zweites Plakat ist übrigens in Vorbereitung, das die Ironie des ersten deutlich werden lässt: „Sex auch nicht“. Sich von diesem Witz einer Szene, deren Publikum auch ohne humanistische Bildung ins Theater findet, etwas abzuschauen, hätte dem Kongress sicher gut getan. Doch die Orte, die in den letzten Jahren neu für das Theater entstanden sind, kamen auf dem Kongress eh nicht vor.