DAS KOPFTUCH-URTEIL IST MUTIG – UND GUT FÜR ALLE BETEILIGTEN
: Aus Not zur Vielfalt

Das Bundesverfassungsgericht hat seine Lektion gelernt. Anders als beim Streit um das Kruzifix verzichtete es beim Kopftuch auf eine enge bundeseinheitliche Auslegung des Grundgesetzes. Wie staatliche Neutralität in einer pluralistischen Gesellschaft aussehen soll, kann künftig jedes Bundesland für sich entscheiden.

Ein neuer Autoritätsverlust, wie nach dem Kruzifix-Urteil, ist somit vermieden. Damals rief die bayerische Politik zunächst zum Widerstand auf und ließ später die Kreuze im Klassenzimmer einfach hängen; nur auf begründeten Wunsch von Schülern und Eltern werden sie nun abgenommen. Aus dieser Not machte Karlsruhe jetzt eine Tugend. Wenn die Länder ohnehin machen, was sie wollen, dann kann man dies auch gleich zum Programm erklären. So können zum Beispiel Baden-Württemberg und Bayern ein Kopftuchgesetz beschließen und Nordrhein-Westfalen kann ausdrücklich darauf verzichten.

Auf den ersten Blick sieht das nach juristischer Feigheit aus, doch auch verfassungsrechtlich lässt sich dieses Ergebnis gut begründen. Abzuwägen sind hier schließlich vier Rechtspositionen – die Rechte von Lehrern, Schülern und Eltern sowie die Neutralitätspflicht des Staates. Wer hier behauptet, es sei nur eine Lösung (pro oder contra Kopftuch) möglich und zulässig, der überschätzt das Recht und achtet die Demokratie gering.

Möglicherweise wird das Kopftuch in den kommenden Landtagswahlkämpfen sogar Wahlkampfthema. Das kann man heikel finden oder auch als Chance zur gesellschaftlichen Selbstverständigung begreifen. Das bisherige Niveau der gesellschaftlichen Debatte macht dabei eher Mut.

Auch das gestrige Urteil ist ein wertvoller Beitrag zur Diskussion – gerade in seiner Uneindeutigkeit. Einerseits macht es deutlich, dass das Kopftuch kein einfaches Zeichen ist. Es kann als Beleg der weiblichen Zweitrangigkeit im Islam gesehen werden, aber auch als Symbol der Emanzipation der islamischen Frau.

Das Urteil enthält zudem eine doppelte Einladung. Eine richtet sich an die islamischen Gemeinschaften in Deutschland. Diese haben nun die Möglichkeit, an bestimmten Zeichen und Traditionen festzuhalten, wenn sie sich in die Werteordnung der freiheitlichen Demokratie einfügen. Die zweite Einladung geht an die deutsche Gesellschaft, die nun ihr Verständnis von staatlicher Neutralität neu definieren kann. Möglich ist auch eine „Offenheit in Vielfalt“, die sich dadurch auszeichnet, dass niemand bevorzugt, aber auch niemand ausgegrenzt wird. CHRISTIAN RATH