Kapitalismus und Depression

Lange war Brecht mausetot. Jetzt kehren seine Aufklärungsstücke über den Markt als Matrix menschlichen Handelns und Fühlens zurück. Oft allerdings in einem naiven Retro-Look, wie am Berliner Ensemble. Dass es auch anders geht, beweist an der Schaubühne ein junger Regisseur aus Polen

Aber Peymann interessiert sich nicht für andere Lesarten als die, die vor 1989 galten

von ESTHER SLEVOGT

Kaum ein Dramatiker hat die Idee vom Theater als Instrument der Weltverbesserung so nachhaltig geprägt wie Bertolt Brecht: Als Marxist ließ er nie einen Zweifel daran, dass sich die Weltverbesserung in einem kommunistischen Happy End vollenden würde. Das Ende war, wie man ja weiß, alles andere als happy. Es war auch überhaupt kein Ende. Der real existierende Sozialismus wurde von der Weltbühne gefegt. Eine Zeit lang war auch das Brecht-Theater klinisch tot, erstickt unter dem Staub der Geschichte. Für die Zusammenhänge von Kapitalismus und Depression interessierten sich allerhöchstens noch versierte Diskursfacharbeiter wie René Pollesch. Doch dort sieht die Welt mindestens so kompliziert aus, wie sie inzwischen wirklich ist.

Und beileibe nicht so schön wie jetzt am Berliner Ensemble, wo jetzt Claus Peymann nach der „Mutter“ nun auch die „Heilige Johanna“ inszeniert hat. Keine Spur von Aufteilung in Gut und Böse, wie das in Brechts Dramen doch so prima funktioniert. Dabei ist die Sehnsucht nach Übersicht, nach Achsen des Guten und des Bösen, inzwischen wieder beträchtlich gewachsen. „Die aber unten sind, werden unten gehalten / damit die oben sind, oben bleiben“, bringt am Ende Johanna ihre Erkenntnisse über den Zustand der Welt auf den Punkt. Da hat sie längst gegen das Großkapital verloren. Am Anfang sagt sie verächtliche Sätze über den ganz irdischen Hunger der Arbeitslosen, die nach realer Suppe statt religiöser Erlösung streben. Sätze, die man sich so ähnlich auch im Testament des Nine-Eleven-Attentäters Mohammed Atta vorstellen könnte. Aber Peymann interessiert sich nicht für andere Lesarten als die, die vor 1989 galten.

Auf einer schwindelnd nach hinten ansteigenden Plattform (Bühne: Achim Freyer) sind die verschiedensten Parteien des Fleischmarkts vertreten: Viehzüchter mit Gummistiefeln und grünen Filzhosen, Fleischfabrikanten in bunten Nadelstreifenanzügen, finstere Schlachthausbesitzer und vor allem der massige Pierpont Mauler, Fleischkönig von Chicago. Mauler lehrt sämtliche Marktteilnehmer das Fürchten und bringt gleichzeitig dem Theaterpublikum das Abc der freien Marktwirtschaft bei: wie der Preis durch Verknappung des Angebots gesteuert wird. Dass dabei schon mal tausende von Arbeitsplätze verloren gehen: Egal. So böse sind eben Kapitalisten.

Manfred Karge spielt den Fleischkönig als schillernden Helden: zerrissen zwischen Profitgier und Menschlichkeit. In seinen stärksten Momenten entdeckt man in ihm den Mann, dem man sofort die Umsetzung von Schröders Agenda 2010 anvertrauen würde. In Meike Drostes schwärmerisch-leuchtender Johanna hat Karge einen glänzenden Widerpart und Berlins bürgerliche Bühnen einen neuen Theaterstar. Bis in die Nebenrollen überstrahlen schauspielerische Glanzleistungen eine sonst eher unreflektierte Inszenierung. Das Arbeitslosenheer ist ästhetisch entrückt. Johanna im Kinderkleidchen hustet am Ende schwindsüchtig, als stamme sie aus dem Sozialfundus von Charles Dickens. Je dramatischer das Elend, desto lauter heult der Wind aus den Kulissen. Eine Geige krächzt. Hat Brecht das wirklich verdient?

Dass es anders geht, konnte man in der Schaubühne sehe, wo der junge polnische Regisseur Grzegorz Jarzyna Brechts frühes, fast noch expressionistisches Drama „Im Dickicht der Städte“ inszenierte: die Geschichte eines merkwürdigen Kampfes, zu dem der reiche Shlink (Hans-Michael Rehberg) den armen Bibliotheksangestellten Garga (Robert Beyer) gefordert hat. Schon in der ersten Szene kippt Jarzyna den Symbolismus des Stücks ins Reale. Aus Brechts Modellmetropole Chicago wird ein albtraumartiges Metropolis, in dem sich Bindungen auflösen, Gefühle implodieren und die Menschen verschlungen werden. Jarzyna inszeniert Brecht mit den Mitteln amerikanischer B-Movies, nimmt wörtlich, was der damals noch Rimbaud-beeinflusste Brecht rein ästhetisch verstand. Da klingen lyrisch-kraftmeiernde Sätze aus dem Mund einer besoffenen Braut (Anne Tismer) plötzlich wie blödes Gebrabbel und dabei doch so wahrhaftig wie nie. Brechts Gleichnis vom Einzelnen, der in der Maschinerie des Kapitalismus vor die Wahl gestellt wird, entweder zum Unmenschen zu werden oder unterzugehen, hat man selten so stimmig gesehen. Die Sympathien schwanken zwischen Shlink und Garga. Die korrupten Kleinbürger der Familie Garga wirken wie amerikanische Spießer aus dem Mittleren Westen: Ihren Untergang kann man kaum betrauern. Shlinks Handlanger haben Replikanten-Charme, und man würde sie gern erretten. Jarzynas Lesart ist nicht durchgängig eingelöst. Trotzdem: So könnte es gehen.

Weitere Vorstellungen: BE (Johanna) 13. 9., 19.30 Uhr, 21. 9., 16.00 Uhr; Schaubühne (Dickicht) 13., 25., 26. 9., jeweils 20 Uhr