Vor den Filmen kommt das Warten

Lidokino (1): Gestern Abend wurden die 60. Filmfestspiele von Venedig eröffnet. Vorher schien noch eben mal die Zeit stehen geblieben zu sein

Beim Flug über die Alpen kann man sich die Zeit vertreiben, indem man Dolomitengipfel rät: Waren das eben die Geislerspitzen? Und dort links der Sellastock? Dann dauert es nicht mehr lange, und der Blick aus der Luft fällt auf die Lagune, auf den schmalen Streifen, der sie vom Meer trennt, auf Giudecca, den Canale di San Marco, das schmale Band des Canal Grande. Wenn das Wassertaxi wenig später über die Lagune gleitet, ahnt man, dass es eine schönere Kombination aus Wasser, Licht und Wind kaum geben wird.

Am Lido geht es beschaulich zu. Am Hotel des Bains, wo Luchino Visconti Thomas Manns „Tod in Venedig“ verfilmte, ist die Uhr stehen geblieben, 5.40 Uhr zeigt sie an. Akkreditierungen? Am nächsten Morgen ab neun, sagt der junge Mann, der am Montag Nachmittag das Portal zum Casino bewacht, „im Augenblick geht hier nichts“. Arbeiter tragen Zierbäumchen und Stellwände, und an dem Holzgestell, das von heute Abend an den roten Teppich vor dem Palazzo del Cinema stützen soll, wird gehobelt.

Am Dienstagmorgen um neun geht noch nicht sehr viel. Kritiker sammeln sich vor der Tür zum Akkreditierungsraum. Ein junger Mann, ein anderer als am Vortag, begrüßt die Neuankommenden mit einem entschuldigenden Lächeln: „Ja, Sie haben Recht, es sollte ab neun Uhr geöffnet sein“, sagt er noch um halb zehn. Die Menge bleibt gelassen. Einer der Wartenden sieht aus wie Al Pacino, ein anderer wie Ed Harris. Von den Frauen ähnelt keine einer Schauspielerin, was entweder daran liegt, dass die Differenz zwischen Männern in Filmen und denen im echten Leben kleiner ausfällt als die zwischen gefilmten und echten Frauen, oder daran, dass nur wenige der wartenden Kritikerinnen jünger als 25 sind.

„Die Atmosphäre ist gut, genauso wie die Auswahl der Filme“, freut sich der Festivaldirektor Moritz de Hadeln in La Repubblica. „Das Kino ist wie der Wein, und dies ist ein guter Jahrgang.“ In Cannes sah das noch anders aus, aber daran will man hier nicht denken. Zumal sich de Hadelns Programm tatsächlich sehen lassen kann. Diese 60. Mostra d’Arte Cinematografico setzt sich aus einer soliden Auswahl aus zum größten Teil asiatischen, europäischen und nordamerikanischen Produktionen zusammen. Vornehmlich in Sonderprogrammen oder außer Konkurrenz sind die namhaften Regisseure vertreten: Bernardo Bertolucci, Martin Scorsese, Lars von Trier, Oliver Stone oder die Coen-Brüder. Woody Allens „Anything else“ mit Christina Ricci und Jason Biggs wird heute Abend die Eröffnung bestreiten.

Studiert man die Liste der übrigen Regisseure, so fällt schlagartig auf, wie viele unterschiedliche Formen das Kino kennt und wie spät die entsprechenden Filme in Deutschland ankommen, so sie es denn überhaupt je tun. Von Takeshi Kitano, der im letzten Jahr mit „Dolls“ im Wettbewerb der Mostra vertreten war, läuft in diesem Jahr schon eine neue Arbeit, „Zatoichi“. In Deutschland wiederum war „Dolls“ bisher nicht zu sehen. Einem kleinen Kölner Verleih gebührt das Verdienst, ihn ab Oktober zu zeigen. Dass man nur etwas mehr als ein Jahr hat warten müssen, ist vermutlich ein Grund, sich glücklich zu schätzen. Ähnliches gilt für die Filme von Raoul Ruiz, Marco Bellochio, Bruno Dumont, Amos Gitaï, Tsai Ming-Liang, Noèmie Lvovsky oder Manoel de Oliveira.

Auf die ganz großen Produktionen aus Hollywood unterdessen hat die Mostra verzichtet. Als Startrampe gibt sie sich höchstens für Robert Rodríguez’ „Once Upon a Time in Mexico“ her. Diesem dritten Teil der Mariachi-Serie wird es gehen wie „Matrix Reloaded“ in Cannes. Er macht viel Krach, ist aber kein wirkliches Vergnügen – einmal abgesehen vom Einsatz Johnny Depps.

CRISTINA NORD