Schuld und Bühne

Der Theaterregisseur Roberto Ciulli hat mit Forensik-Patienten ein Stück erarbeitet. In den Rheinischen Kliniken erzählt es vom Verschwinden des Ich

von DOROTHEA MARCUS

In Köln-Langenfeld scheint die Luft gut. Über zwei Kilometer erstreckt sich hier das weitläufige Parkareal der Rheinischen Kliniken Langenfeld mit alten Gutshäusern aus weinrotem Klinker: eine Idylle in rheinischer Zersiedlung. Doch die Patienten merken nichts von den paradiesischen Aspekten der psychiatrischen Anstalt, in der sie sich teilweise seit über zehn Jahren befinden – die meisten von ihnen haben nie Ausgang. Zu ihnen kam nun Roberto Ciulli, Leiter des Mühlheimer Theaters an der Ruhr, um ein Theaterstück zu machen.

Zum ersten Mal überhaupt hat damit Ciulli, der theatrale Tabubrüche sonst mit Vorliebe in entfernten Gegenden, zuletzt in Bagdad und Teheran suchte, eine andere Art von Grenzüberschreitung gewagt. Gewissermaßen ins Gesellschaftsinnere, dorthin, wohin man sonst nie gelangt: in die Forensik, wo psychisch kranke Straftäter auf ihre Heilung warten, um danach in den Knast geschickt werden zu können.

Die meisten haben jene Art von Straftaten begangen, die bei Bild auf Seite eins stehen. Ein Jahr lang ließ sich Ciulli mit sechs von ihnen wöchentlich einschließen und hat geprobt. Nach ihrer Vergangenheit hat er sie nie gefragt.

„Mich interessiert schließlich auch nicht das Privatleben meiner Schauspieler“, sagt er. Seit Jahren wollte er im Gefängnis arbeiten, konnte sich aber nie mit dem nordrhein-westfälischen Justizministerium einigen. Das Projekt in der Forensik, unterstützt von der Leiterin der Langenfelder Ergotherapie, muss ihm verlockend vorgekommen sein: Eindringen in tabubesetztes, abgeschlossenen Niemandsland. Nicht um Therapie und Gutmenschentum geht es ihm an diesem Ort, sondern um sonst unerreichbare Erfahrungen.

Geworden ist daraus „Wie hast du geschlafen?“, eine Collage aus Erinnerungen, Gesten und Textfetzen über Zeit und Sprachlosigkeit – gebaut um jene nichts sagende und penetrante Frage, die Patienten jeden Tag gestellt wird. Ein Mann (Hagen Struve) läuft in kleinen nervösen Kreisen durch den Raum, ein gefangenes Tier, ein Rilke’scher Panther im Käfig, latent aggressiv und nervös. Er zertritt eine Zeitung, dreht Zigaretten. Neben ihm taucht ein anderer in Frauenkleidung aus einem Erdhaufen auf und erzählt Geschichten aus Thomas Manns „Buddenbrooks“. Ein weiterer geht hinter ihnen her, räumt auf, weist zurecht. Ein Ball rollt aus dem Hügel, bringt einen nächsten Mann zum Dribbeln, dann singt er Kauderwelsch, schüttelt sich – und sagt schließlich: „Ich bin nie gewesen.“

Fühlt man sich so, wenn man für immer „weggesperrt“ ist?

Immer wieder kehren die Spieler in die Mitte des Raumes zurück, bergen ihren Kopf in den Händen oder betrachten sich, als würden sie sich gerade erst entdecken. Über ihnen flimmern körnige Filmausschnitte von Hans-Peter Clahsen, die sich manchmal fast zu dominant über die Stille legen: langsam aufgehende Türen, fließendes Wasser, Frauen, Gesichtsfragmente hinter Wänden aus Zigarettenrauch: Erinnerungen, Traumbilder. Zum Schluss kehren die Männer den Zuschauern den Rücken zu und dirigieren ein unsichtbares Orchester – jenes womöglich, das ihnen aus der Hand geglitten ist.

Man möchte den Abend „zart“ nennen, auch wenn es abgegriffen ist: ein anrührendes und trauriges Theater, das sich über engsten Raum erhebt, nicht greifen lässt und doch viel von den Männern erzählt. Trotzdem lässt sich das ambivalente Gefühl, sich als Zuschauer wie zwischen Zoobesuch und Geisterbahnfahrt zu fühlen, nicht abschütteln.

Man möchte gerne vergessen, was diese Männer vielleicht getan haben – aber das geht nicht. Im Gespräch mit ihnen überwiegt das Staunen, wenn sie eloquent und kämpferisch ihr Bild in der Gesellschaft ändern wollen. „Es ist das erste Mal, dass wir nicht nur unter dem Gesichtspunkt einer Tat gesehen werden, und das ist sensationell“, sagt Hagen Struve. Gerne möchte man, dass es so ist und kommt ins Schlingern.

Zum Glück nimmt Ciulli die Frage von Schuld, Sühne und Stigmatisierung, ironisch auf: Auf der Premierenfeier sitzen die Schauspieler für eine halbe Stunde abgesperrt hinter Glas im „VIP-Bereich“, dann müssen sie auf Station 15 zurück. Während die Zuschauer mit belegten Brötchen vorlieb nehmen müssen, dürfen sie mit einem Spanferkel feiern, und wir betrachten sie dabei.

Letztlich würde der Abend ohne dieses schwankende Gefühl von Faszination und Mitleid, Abscheu und Neugier nicht funktionieren. Aber gerade diese Verunsicherung hat viel mit gutem Theater zu tun. Und das ist nicht zuletzt Roberto Ciullis Gewinn.