Wird tüchtig gekuschelt?

Auf der Kinderintensivstation: Dort finden sich verzweifelte, bangende und hoffende Väter und Mütter. Und Pfleger und Schwestern, die alles ziemlich gut im Griff haben. Ein Erfahrungsbericht aus dem Alltag inmitten fiepender und schweigender Gerätschaften

von FRANK SCHÄFER

Krankenbericht: „… Da sich der Allgemeinzustand der Mutter nicht stabilisiert und die fetale Tachykardie persistiert, wird der Entschluss zur Schwangerschaftsbeendigung mittels primärer Sectio caesarea gefasst.“ Operationsbericht: „… Pfannenstielschnitt … Digitale Erweiterung der Uterotomiewunde und Entwicklung des kindlichen Köpfchens unter Führung der Hand … Abnabelung. Das Kind ist lebensfrisch und schreit kräftig durch … Ende des operativen Eingriffs. Instrumente nach Angabe der OP-Schwester vollständig.“

Fast alle Frühgeborenen liegen in einem Inkubator von der Größe eines komfortablen Aquariums, an jeder Seite befinden sich zwei Bullaugen, die sich mit einem leichtgängigen, fast lautlosen Druckmechanismus öffnen lassen. Die ganze Seitenwand lässt sich herunterklappen, wenn zum Beispiel der Säugling zum „Kuscheln“ oder auch „Kangarooing“ auf die Brust der Mutter oder des Vaters gelegt wird.

Oder wenn etwas passiert.

Die starren Blicke des wartenden Vaters im Wartezimmer, dessen Tür meist offen steht, zeigen ihm einmal zu oft, dass durchaus was anderes passieren kann.

Kleine Klebesensoren mit kindgerechten Motiven, die jedoch allein die Eltern wie auch immer beruhigen sollen, registrieren die Herzfrequenz, die Sauerstoffsättigung des Blutes, die Respiration. Die Messergebnisse erscheinen auf einem Bildschirm. Atmet das Kind zu flach, sackt der Puls in der Keller, ist die O2-Versorgung des kleinen Körpers nicht mehr ausreichend – alles hängt hier mit allem zusammen! –, blinkt eine Diode, und ein alternierender Warnton erklingt, der an Sechzigerjahre-Science-Fiction-Filme erinnert. Unterschreiten die Vitalfunktionen des Kindes noch einen weiteren Grenzwert, ertönt ein anderes Signal, dem die gesteigerte Dringlichkeit an der höheren Frequenz und den kürzeren Pausen deutlich anzuhören ist.

Diese Warnungen werden von einer Krankenschwester „bestätigt“, also abgestellt, und gegebenenfalls, falls es sich nicht um einen Fehlalarm handelt – denn die Sensoren sind sensibel und entsprechend störanfällig –, in die Krankenakte eingetragen. Spätestens nach zwei, drei Tagen hat er den Bildschirm genauso oft im Blick wie das eigene Kind. Krisen sieht er langsam sich aufbauen, sich nähern, und er hört das Signal, schon lange bevor es akustische Wirklichkeit wird, wundert sich manchmal sogar, warum es nicht erfolgt, obwohl er sich doch genau daran erinnert, dass bei diesem Wert gestern oder heute Vormittag das Gerät anschlug.

Das gehört für ihn zu den kleinen Mysterien der Gerätemedizin, zumindest so lange, bis er mitbekommt, wie eine Krankenschwester die Warnungsparameter neu justiert. Offenbar werden sie dem Kind ständig angepasst. Informiert wird er darüber nicht, denn er soll sich um die Geräte nicht kümmern, sondern sein Kind ansehen. Das nimmt er sich dann vor, aber es gelingt ihm nie.

Eine Krankenschwester eilt zu einem Baby, das jetzt drei Wochen alt ist respektive sich in der 29. Schwangerschaftswoche befände. Beide Daten sind wichtig, lebenswichtig. Laut dem Monitorklingeln schwebt es in Gefahr, und deshalb läuft die Schwester, öffnet dann aber mit großer Ruhe die Inkubatorklappen, hebt das Kind auf, animiert es durch kräftiges Streicheln und redet zärtlich auf es ein: „Hey, das geht aber nicht … Erst schimpfen wie ein Rohrspatz, und jetzt spielst du den blauen Klaus? Du musst ein bisschen mitmachen, ja, schön atmen, so ist gut.“

Im Elternzimmer sitzt eine unnatürlich bleiche Frau mit einem irgendwie zerdellten Kopf und debilen Augen. Der Mann wird durch die Tür verdeckt, aber er spricht eine laute, undeutliche, zernuschelte, abgehackte Trinkersprache, eher ein Sprachrudiment. Und was sie darauf antwortet, passt zu ihrem Gesicht. Er versucht, sich aufs Händewaschen zu konzentrieren, muss aber trotzdem hinhören und wird wütend, als sie und wie sie über ihr Kind sprechen. Einen kurzen Moment lang denkt er an all die schlimmen Sachen, die der Volksgesundheit dienen sollten. Er hat sich gleich wieder im Griff, schüttelt über sich selbst betreten den Kopf, aber dieser eine kurze Moment lässt sich nicht verleugnen.

Wo alles fremd ist, ist es die Sprache vor allem. Und er meint gar nicht in erster Linie den medizinischen Jargon, das Pschyrembellatein. Irgendwann hat er es eben raus, dass mit Apnoe eine Atempause, mit Bradykardie ein Absenken der Herzfrequenz gemeint ist, und so weiter. Und darauf war er überdies gefasst, so wie er erwartet, dass die Menschen im Ausland ihre Landessprache sprechen.

Nein, viel merkwürdiger erscheint ihm der Umstand, dass eine Bradykardie genommen, geboten, gegeben oder hingelegt wird. Mit anderen Worten, das eigentlich Verwunderliche sind die Leihwörter aus der Sprache des Alltags, die hier mit leicht modifizierter oder metaphorisierter Bedeutung Verwendung finden. Und er wundert sich, mit welcher Selbstverständlichkeit Ärzte und Pflegepersonal solche Begriffe wie „Elternschleuse“ verwenden oder dass sie ein Medikament ausschleichen wollen oder ein anderes umsetzen. Er glaubt, dass er so sensibel darauf reagiert, weil ihm etwas so Bekanntes wie die eigene Sprache entfremdet wird.

Eine Frau stillt ihren Sohn. Ihr Mann sieht ihr dabei zu.

„Stört dich das?“, fragt sie.

„Nein, wieso?“

„Na, das war immer dein Spielzeug.“

Am Fenster sitzt eine dicke Frau. Er schaut sofort und instinktiv auf ihre entblößten Brüste, ausladende, beinahe formlose, hängende Titten, die wirklich jegliche sexuelle Konnotation verloren haben. Bloße Nahrungsspender. Sie lächelt ihn an, seliges Muttertier. Gleich wird sie ihr Kind satt machen. Und er schämt sich für den Blick, den er ihr zugeworfen hat. Aber nur ein bisschen.

Am Inkubator nebenan ist heute die Großmutter dabei und schaut sich mit Tränen in den Augen ihr früh geborenes Enkelkind an. Die Mutter reagiert leicht genervt und schildert den Zustand ihres Kindes sehr schnell und sehr positiv, vermutlich positiver, als er in Wirklichkeit ist.

Ihre Schwiegermutter soll sich jetzt nicht auch noch aufregen, vermutlich hat sie ein schwaches Herz. Vor allem aber will sie sich selbst nicht noch mehr aufregen, als sie es ohnehin schon tut. Dabei tut sie das längst, weil die Reaktion ihrer Schwiegermutter sie fertig macht.

Nach fünf Minuten wird es der Großmutter zu langweilig, und so geht sie die anderen Inkubatoren ab und sieht neugierig in die Schaufenster. Sie lässt sich nicht mal von anwesenden Eltern stören, die mit leisen Worten auf ihr Baby einreden.

Er will ihr irgendeine Frechheit an den Kopf werfen, traut sich aber nicht, vielleicht weil ihm als kleines Kind eingebläut wurde, er habe alten Menschen gegenüber freundlich und nachsichtig zu sein. Schließlich weist eine Schwester sie freundlich zurecht. „Bitte bleiben Sie bei Ihrem Kind. Das müssen Sie verstehen, die Eltern haben vielleicht etwas dagegen, dass Sie hier so …“

Auch sie enthält sich einer Frechheit. Die Großmutter zieht schmollend ab und diskutiert nun leise mit ihrer Schwiegertochter über das ungehörige Verhalten der Krankenschwester. „Ach, ich kann das verstehen“, sagt die Schwiegertochter, „mir wäre das vielleicht auch nicht recht.“

Wie selbstverständlich steigen nun Gewaltfantasien in ihm auf, in denen diesen beiden Frauen eine tragende Rolle zukommt.

Rituelle Standards waren längst vor ihm da. So wird ein Frühchen, das, für kurze Zeit aus dem Inkubator genommen, auf der Brust der Eltern schläft, stets und obligatorisch von jedem Neuankömmling mit einem freundlichen Wort bedacht. Das übliche Lächeln mit dem informellen „Hallo“ reicht da nicht mehr. Hier geht es um mehr! Ein anderer Vater nickt freundlich und sagt sehr ernst: „Das ist gut!“

Eine Krankenschwester, die gerade Pause gemacht hat und nun das Zimmer („die Box“) betritt, lächelt professionell. „Na, hier wird aber tüchtig gekuschelt?!“ Eine andere spricht den schlafenden Säugling direkt an: „Na? Das gefällt dir wohl, was? Das kann ich mir vorstellen.“

Und er selbst, als er auf eine solche Situation trifft, formuliert schon mal Worte im Kopf vor, die diesen ganz ähnlich sind, obwohl er sie albern findet.

Der Reflex, etwas Nettes zu sagen, ist also vermutlich kein in diesem Milieu erlernter, sondern das pure Mitgefühl. Das hat für ihn etwas Tröstliches und alle Albernheiten beinahe Entschuldigendes.

Das Frühgeborene hat auf der Intensivstation keine Eltern. Nur Besucher. Das ist vielleicht das Unerträglichste für ihn, wenn er jetzt mal absieht von der Furcht. Er ist seiner Verantwortung gänzlich enthoben. Ob die kleinen Ringelsocken angezogen werden oder nicht, entscheidet ein anderer.

Mit der Zeit verschiebt sich das Verhältnis etwas. Weil er dem Pflegepersonal beweist, dass er vorsichtig und verantwortungsvoll mit seinem Kind umgeht, dass sie ihm also trauen können, lassen sie ihn schon mal wickeln, waschen, die Sensoren auswechseln, Fieber messen. Dafür brauchte es allerdings Wochen. Denn Schwestern und Pfleger rotieren fast täglich, offenbar damit sich kein emotionales Verhältnis zu den Kindern aufbaut, das ihre Urteilskraft trüben könnte.

Aber nachdem er sich erst mal eine gute Reputation erworben hat, wissen auch neue Schwestern und Pfleger davon und übertragen ihm kleinere Aufgaben.

Eines Tages fehlt der Inkubator hinten links. Sein Kind! Statt dessen steht dort ein offenes Wärmebett. Bevor er eintritt, sieht er ängstlich zur Schwester hin, aber die lächelt erwartungsfroh und nickt ihm bestätigend zu. Sein Kind – im offenen Wärmebett!

Als er abends in die Stadt fährt, um sich mit Freunden zu treffen, sieht er die Schwester, die sein Kind heute betreut hat, wie sie sich auf dem Fahrrad eine Steigung hinaufmüht. Sie trägt eine sehr weite Cargohose, ein orangefarbenes T-Shirt, und sie schwitzt. Jetzt bemerkt sie ihn auch, und sie winken sich zu. Beide sind etwas peinlich berührt, als wäre schon diese zufällige Begegnung, die Tatsache, dass er die sonst stets Uniformierte in Zivil gesehen hat, ein ungehöriger Übergriff aufs Private.

Als sie sich am nächsten Tag auf dem Gang der Station begegnen, ist diese kleine Peinlichkeit immer noch zu spüren. Ihr ist es wahrscheinlich unangenehm, weil sie um ihre Autorität fürchtet; ihm, weil er weiß, dass sie Recht damit hat, und sich von ihr durchschaut fühlt.

Er merkt, dass heute etwas passieren soll. Die Dienst habende Ärztin kommt ins Zimmer, schaut sich die Kurven der Patienten an. Ein Pfleger fragt sie lächelnd: „Und?“ Kurze Zeit später flüstert ihr eine Schwester zu – er hat sich mittlerweile angewöhnt, besonders auf die geflüsterten Äußerungen zu achten –: „Hast du dir schon überlegt, was du sagen willst?“ – „Jetzt schon?“, raunt die Ärztin zurück. „Was wir haben, haben wir.“

Ein paar Minuten später tritt sie an das Wärmebett, hebt und senkt die Schultern und verkündet feierlich. „Er macht ja seine Sache schon eine Weile sehr gut. Deshalb haben wir uns entschlossen, ihn auf die Säuglingsstation zu verlegen.“ Sie lächelt, freut sich einen kurzen Moment über die von ihr ausgelöste Reaktion und wendet sich dann taktvoll ab.

FRANK SCHÄFER, geboren 1966, lebt als Schriftsteller in Braunschweig. Die Geschichte über das Frühchen hat er sich nicht ausgedacht. Demnächst erscheint von ihm der Prosaband „Verdreht. Netzwerke und Elemente höherer Ordnung“ (Oktober Verlag, Münster 2003, 164 Seiten, 16 Euro)