Späte Häutung

Tizian war ein hervorragender Action Painter, der die Farben mit Fingern zum Leben brachte. In der Blockbuster-Show der National Gallery gehen die Feinheiten des Werks jedoch in zu viel Masse unter

von BRIGITTE WERNEBURG

Immerhin elf Gemälde von Tizian nennt die National Gallery in London ihr Eigen. Ein Schatz, der für ihren Chefkurator David Jaffé Ansporn war, ihn zeitweilig um ein paar Dutzend weitere Gemälde des großen Renaissancemalers zu ergänzen. Die weit über 40 Bilder, die unter anderen der Prado in Madrid, die National Gallery in Washington oder das Kunsthistorische Museum in Wien entliehen haben, stopfte er in sechs Räume, von denen zwei kleine Kabinette sind. Das Ergebnis ist ein Blockbuster, der dazu führt, dass einen die Leute in der U-Bahn am Tag vor der Eröffnung wegen des Pressekatalogs ansprachen: „Ach, Sie haben den Tizian schon gesehen? Wir freuen uns ja so darauf.“

Doch leider, es ist nicht gewiss, ob ihre Freude währen wird. Zunächst irritiert der akademische Ansatz der Schau. Sie will über die chronologisch bestückten Räume vor allem die Entwicklung des Malers nachvollziehen und versucht mit der Präsentation von drei mythologischen Szenen, die Tizian zwischen 1518 und 1525 für einen Privatraum im Schloss von Alfonso d’Este in Ferrara gemalt hat, sogar eine richtige Rekonstruktion von dessen camerino. Am Ende fühlt man sich aber keineswegs von Tizian überwältigt, sondern von der Masse an Tizians und von der durch die Ausstellung so deutlich auferlegten Aufgabe, die motivische Vielfalt und Meisterschaft Tizians zu würdigen. Merkwürdigerweise mögen sich der Kurator und seine Mannschaft dabei gar nicht mit dem späten Tizian anfreunden, dem das Malen selbst zum maßgeblichen Antrieb wurde, und halten einen ständig, und ziemlich unnötig, mit der Frage auf, ob die Gemälde überhaupt als vollendet zu betrachten seien.

Auch die Tatsache, dass man in dem von Venturi, Scott Brown and Associates 1991 erbauten Sainsbury Wing zu den Räumen für die Wechselausstellungen wie in eine Gruft hinabsteigt, fördert nicht weiter die Erhebung der Sinne. Kaum unten angekommen, überfällt einen jedes Mal der Wunsch nach mehr Licht, oder einem anderen, freundlicheren Licht, nach mehr Luft und mehr Platz für die Gemälde. Offenbar wird die Beklemmung von anderen Besuchern geteilt. Dem Kritiker des Guardian, Adrian Searle, fiel angesichts des geballten Tizians vor allem ein, dass „weniger manchmal mehr wäre“. Selbst die selten gezeigte, zuletzt als größter Tizian gefeierte „Schindung des Marsyas“ (1570–76), aus einem erzbischöflichen Museum in Tschechien, erscheint ihm hier nur als „Bild unter Bildern“. Angesichts dieses erstaunlichen, späten Gemäldes, in dem die Malweise Tizians wenigstens so gewalttätig anmutet wie das Motiv des Satyrs, der kopfüber an einem Baum hängt und von Apollo gehäutet wird, ist das ein herbes Urteil. Doch es trifft die Stimmung in der Galerie. Denn es fällt auf, wie froh man ist, wenn ein Gemälde einen plötzlich brennend interessiert und einem endlich die von David Jaffé ausgelegte Perlenschnur der Meisterwerke herzlich gleichgültig ist.

Schon Tizians Zeitgenossen waren perplex über die Methoden, mit denen er in seinen letzten Jahren arbeitete, erstaunt bemerkten sie, dass er mehr mit den Fingern als mit dem Pinsel male, und dass sein Farbauftrag so grob sei, dass man aus der Nähe gar nichts erkennen könne. Tatsächlich kommt die Malerei selbst in „Marsyas“ zur Darstellung, nicht die Wiedergabe des Motivs. Interessanterweise verliert selbst die Farbe, für deren meisterhafte Beherrschung Tizian berühmt war, an Gewicht. Fast monochrom erscheint das Martyrium und vielleicht fällt gerade deshalb das niedliche Schoßhündchen so auf, das begeistert in der roten Blutlache leckt, die sich unter dem Satyr gebildet hat. Ob vollendet oder nicht, die Ausstellung selbst legt es nahe: auf diesen freien, improvisierten Stil lief Tizians Könnerschaft folgerichtig hinaus.

Er tat seiner Geltung auch keinen Abbruch. Tizian, um 1490 in den Dolomiten als Tiziano Vecellio geboren, starb als wirklicher Malerfürst 1576 in Venedig, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte. Sein Reichtum und sein Ruhm ließen ihn in die höchsten Kreise der Gesellschaft aufsteigen, und Kaiser Karl V. soll sich nach den Pinsel gebückt haben, den Tizian fallen ließ. Schon in Jung galt er als der führende Maler Venedigs, in seiner Vielseitigkeit kaum zu übertreffen. Ein brillanter Porträtist, verstand er sich auf mythologische Szenarien, auf Landschaften wie auf Altar- und Heiligenbilder; der elegante, erotische Charakter seiner Bilder und ihre Kostbarkeit wurden gerühmt, der überragende Kolorist bewundert.

Betörend ist denn auch die Farbigkeit von „Bacchus und Ariadne“ (1520–26), einer der Mythologien aus Ferrara, die nun der National Gallery gehören. Besonders das kühle Blau des Firmaments, an dem die Sterne glitzern, die vom Himmel zu holen der Weingott Ariadne als Hochzeitsgeschenk versprach. Betörend auch, und sympathisch, dass die von Theseus verlassene, der Bacchus zum Tröster wird, keine von Tizians hingegossenen Liegenden ist, wie „Danaë“ oder die verschiedenen Venuse, ob schlafend, aus Urbino oder mit Cupido, sondern aufrecht dasteht wie ein Mensch.

Dass die Ausstellung die schönen Damen weitgehend vermissen lässt, ist kein Fehler. Wenn alles in „Bacchus und Ariadne“ in Bewegung scheint, dann entdeckt man tatsächlich einen Tizian, der versucht, die Beweglichkeit des Menschen und die Lebendigkeit der kleinen Hunde, die überall bei ihm herumwuseln, ins Bild zu bringen. Einen Tizian mit enormem Sinn für die dramatische Handlung, wenn in „Il Bravo“ (1516–17) nur die Bewegung des Arms den Dolch verrät, den der geharnischte ältere Mann dem jungen in die Seite stechen wird. Für diesen action painter Tizian lohnt sich der Besuch des Blockbusters dann doch.

Bis 18. Mai, National Gallery London