Ein unheimlicher Dialog

Zwischen zwei Unendlichkeiten: Derrida und die Gedenkfeier zu Ehren des vor einem Jahr verstorbenen Philosophen Hans-Georg Gadamer an der Universität Heidelberg

Ein Dialog, der von Anfang an durch Stokkungen markiert war, wie Derrida ausführte

Was haben eigentlich Hans-Georg Gadamer und Jacques Derrida einander zu sagen? Diese Frage stand im Raum, als am Samstag Hans-Georg Gadamers gedacht wurde. Der Philosoph, der vor knapp einem Jahr, am 13. März 2002, gestorben war, wurde in einer Gedenkfeier der Universität Heidelberg geehrt. Zu der Veranstaltung, deren Größenordnung sich selbst eine traditionsbewusste Universität wie Heidelberg nicht alle Tage leistet, hatte man entsprechend den Superstar der intellektuellen Elite Frankreichs als Festredner eingeladen, keinen Geringeren als Jacques Derrida.

Doch bevor der Gast aus Frankreich überhaupt zu Wort kam, musste er das übliche Ritual akademischer Feiern über sich ergehen lassen. Drei Begrüßungsredner ehrten den Verstorbenen: der Rektor (Peter Hommelhoff), der Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Gisbert Freiherr zu Putlitz), der Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg (Erwin Teufel) – sie alle würdigten den weltberühmten Philosophen Gadamer, mal als „Jahrhundertpersönlichkeit“ (Teufel), mal als „bedeutendsten Philosophen“ der Erde (Hommelhoff) oder „herausragenden Gelehrten“ (Putlitz). Recht stolz war da die älteste Universität Deutschlands auf einen ihrer größten Söhne. Der akademische Nachwuchs, für den die Veranstaltung aus der Aula der Neuen Universität per Videokamera in zwei Hörsäle übertragen wurde, erfuhr überdies, dass Gadamer sein Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ erst mit 60 Jahren vorgelegt hatte und dass nach heutigen Evaluationskriterien dieser Wissenschaftler längst „aussortiert“ worden wäre. Gemeinsam war den drei Begrüßungsrednern ihr ungebrochenes Vertrauen in eine große humanistische Tradition des Lernens und der Lehre, welcher der Mensch das Maß der Gesellschaft gilt. Hierin verorteten sie Gadamer. Und so musste jener dann auch als Säulenheiliger für bildungs- und kulturpolitische Positionen herhalten, in deren Mittelpunkt die Begriffe Bildung und Tradition standen.

Dann endlich, als die Stühle bereits unruhig knarrten, kam Derrida – mit einem über dreißig Seiten langen Manuskript: „Der ununterbrochene Dialog: zwischen zwei Unendlichkeiten, das Gedicht.“ Derrida sprach auf Französisch, doch zur allgemeinen Freude der mehr frankophilen als frankophonen Festgesellschaft lag der Text in einer deutschen Übersetzung aus, sodass der erschwerte Dialog des Redners mit dem Publikum durch das reizende Rascheln der Blätter untermalt wurde.

Der größte französische Theoretiker der Gegenwart irritierte nun das von den Vorrednern geweckte Vertrauen in die Kontinuität von Tradition, indem er in einen „unheimlichen“ Dialog mit dem Verstorbenen trat, der, wie Derrida ausführte, von Anfang an durch Unterbrechungen und Stockungen markiert worden war. Derrida begann seine Rede mit einer melancholischen Erinnerung an seinen Freund Gadamer: Als sich beide 1981 in Paris zum ersten Mal begegnet waren, hätte zwischen ihnen „eine Art Sprachlosigkeit, eine Hemmung des noch Unentschiedenen“ geherrscht. Und Derrida gestand freimütig ein: „Da stand ich, mit offenem Mund, sprachlos.“ Nun dekonstruierte er die zarten Bande, die sich zwischen beiden gebildet hatten. Virtuos interpretierte Derrida ein Gedicht von Paul Celan aus dessen Sammlung „Atemwende“, das auch Gadamer tief bewegt hatte. Er zeigte eine Art inneren, virtuellen Dialog mit Gadamer auf, der in Wirklichkeit nicht stattgefunden hätte.

Hierin offenbarte sich jedoch auch der Unterschied zu Gadamer, für den der Dialog nie nachträglich oder virtuell sein konnte, sondern immer präsent war. Im Gespräch ereignete sich ihm die Wahrheit. Stets unterstellend, dass der andere Recht haben könnte, kann keiner mehr erwarten als diese Gegenwart. Und so sah Gadamer Dekonstruktion denn auch als den Beginn eines Gesprächs nicht als das Ziel.

Am Ende waren auch die Zuhörer etwas melancholisch. In den inneren Dialog, in den Derrida seit der ersten sprachlosen Begegnung mit Gadamer getreten war, war nun der Tod getreten.