„Verbrechen müssen bestraft werden“

Eine Aktivistin der russischen Gruppe Memorial, die jetzt den Lew-Kopelew-Preis erhält, zum Tschetschenien-Konflikt

taz: Welches Bild bietet sich Ihnen nach Ihrem jüngsten Tschetschenien-Aufenthalt?

Svetlana Ganuschkina: Die Lage der Menschenrechte hat sich nicht verbessert. Jede Frau hofft, dass die Familie von einem Besuch der Militärs verschont bleibt. Diese enden meist damit, dass Sohn, Mann oder Bruder mitgenommen werden. Und sie kann von Glück reden, wenn dieser nach einigen Tagen – und sei es als Krüppel – zurückkehrt oder sie ihn freikaufen kann. Sind einige Tage vergangen, kann sie nur noch hoffen, seine sterblichen Überreste zu finden. Häufig führt das Militär „Säuberungen“ durch. Wer dabei festgesetzt wurde, taucht oft nicht mehr auf. In den Flüchtlingslagern wird gehungert.

Wo setzen die Menschenrechtsgruppen an?

Unsere Büros leisten kostenlose Rechtsberatung, helfen bei der Erstellung von Dokumenten und Eingaben und unterstützen Menschen in Gerichtsverfahren. Wir dokumentieren Menschenrechtsverletzungen. Während der letzten zwei Monate erfuhr unser Jurist in der Beratungsstelle von Urus-Martan von 23 Verschwundenen. Neun wurden freigelassen, der Rest gilt als vermisst. Einem Freigelassenen wurde ein Ohr abgeschnitten. Drei mal trafen sich dieses Jahr Menschenrechtsorganisationen mit Offiziellen der Tschetschenischen Republik zu Gesprächen.

Was fordern Sie?

Wir fordern ein sofortiges Ende der Sonderoperationen, der „Säuberungen“, und das sofortige Verbot der „Filtrationspunkte“ sowie anderer Haftorte, die in den Gesetzen der Russischen Föderation nicht vorgesehen sind. Die Verbrechen der föderalen Truppen sind keine Einzelfälle. Ich spreche von Hunderten, wenn nicht gar Tausenden von Verschwundenen. Memorial überreichte der Staatsanwaltschaft der Tschetschenischen Republik eine unvollständige Vermisstenliste mit 370 Namen. Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung müssen hart bestraft werden. Eine der wenigen hoffnungsvollen Entwicklungen ist die Arbeit der lokalen Staatsanwaltschaft. So nahm 2001 die Zahl der eingeleiteten Verfahren erheblich zu, aber die meisten werden wieder eingestellt.

Wie kann der Tschetschenien-Konflikt gelöst werden?

Langfristig lässt er sich nur mit Verhandlungen lösen, die anfangs ausschließlich zwischen dem föderalen Zentrum und Vertretern der legitimen Macht vor Ort, Präsident Aslan Maschadow und dem 1997 gewählten Parlament, geführt werden.

INTERVIEW: BERNHARD CLASEN